Gefährliche Räume? Polizeiliche Grenzziehungen in der Stadt – HUch#96

| von Simin Jawabreh |

Die Regulierung von Räumen ist seit jeher Herrschaftstechnik der Polizei, um ein Regieren der Bevölkerung zu ermöglichen. Dabei weist sie eine zweigeteilte Rationale auf und erschafft Möglichkeits- wie Unmöglichkeitsräume.

Bild: frieedland

„Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt. Die Trennungslinie, die Grenze wird durch […] Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm und der Soldat. [..] Dagegen sind es in den kolonialen Gebieten der Gendarm und der Soldat, die ohne jede Vermittlung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrechterhalten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben raten, sich nicht zu rühren.“1

Die gemeinhin dominierende Vorstellung von der Arbeit der Polizei als staatliche Institution der Exekutive ist der Schutz der persönlichen Sicherheit und die Wahrung der öffentlichen Ordnung. Die Annahme, dass die Funktion der Polizei in der Garantie öffentlicher Sicherheit bestehe, ist jedoch fehlgeleitet: Wessen Sicherheit von der Polizei gewährleistet wird, ist in liberalen Demokratien höchst unterschiedlich verteilt. So wurde nicht zuletzt im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste für eine Perspektive plädiert, welche die Polizei als Gefährdungsakteurin artikuliert.

Historische Einordnung: Koloniale Regierungsweisen

Um die Funktion der Polizei für gegenwärtige liberale Demokratien kenntlich zu machen, ist es wichtig, ihre historische Entwicklung zu kennen. Die Polizei, die wir heute als staatliche Institution kennen, hat es als solche nicht schon immer gegeben. Sie ist ein recht junges Phänomen der Moderne und hat zu großem Teil mit der Überwindung des Feudalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftsform zu tun. Mithilfe der Polizei wurde aus ehemaligen Territorialstaaten ein expansiver Nationalstaat, wobei sie zugleich die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems mobilisierte. Der Feudalismus als Produktionsweise zeichnet sich vor allem durch die Einheit wirtschaftlicher und politischer Grundherrschaft im Rahmen der Ständeordnung aus. Bereits im 14. Jahrhundert wurde die Stabilität dieser Feudalordnung durch katastrophale Bevölkerungsverluste infolge der Pest, wiederkehrende Hungersnöte und den Hundertjährigen Krieg irreparabel beschädigt.


Da die ökonomischen Zweige des Feudalismus nach und nach wegbrachen und die Verhältnisse sich zunehmend destabilisierten, setzte man auf eine alternative Form der Aneignung von Überschüssen, um zu sehen, ob dadurch das sinkende Realeinkommen der herrschenden Gruppen wiederherzustellen sei. In dieser Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus setzte eine aufstrebende kapitalistische Klasse von Aristokraten und Bankiers zahllose Arten von Gewalt ein, um sukzessive die Rahmenbedingungen für die neue Wirtschaftsweise zu schaffen: Dörfer wurden niedergebrannt, Steuern und Abgaben auferlegt, Bäuer_innen vom Land vertrieben, um sich dieses anzueignen. Diese enteignete Landbevölkerung, welche die Mehrheit der Menschen darstellte, wurde durch das Zerbrechen der Bindungen, die sie mit ihrem Land, untereinander und mit den sich im Übergang befindlichen Herrschaftsstrukturen einten, aus ihrer gewohnten Lebensweise herausgerissen. Sie wurden gewaltsam in eine neue Rolle gedrückt: Sie mussten sich nun in ein Lohnarbeitsverhältnis begeben, um zu überleben. Denn ihr Land, und somit auch ihr Eigentum, hatten sie verloren. In diesem Kontext hat die Institution der Polizei ihren Ursprung: Sie war hier damit beauftragt, die Enteignungen der Bäuer_innen durchzusetzen, Menschen dem Lohnarbeitszwang zu unterwerfen, Steuern einzutreiben sowie das sogenannte Vagabundieren zu verbieten, damit alle an ihrem vorhergesehenen Platz bleiben.

Die Entwicklung der Polizei vollzieht sich, wie eingangs erwähnt, im Übergang von Fürstentümern und Territorialstaaten zu einem expansiven Nationalstaat. Entsprechend hat die Entwicklung der Polizei einen kolonialen Ursprung. Denn die Expansion des Nationalstaats war nur durch Mittel wie koloniale Ausbeutungen, Plünderungen und Versklavungen in Übersee überhaupt möglich. Hier gab es eine Polizei in dem Sinne, dass es Kräfte gab, die dafür sorgten, dass die Bevölkerung versklavt blieb, sie kategorisierten und anderweitig entmenschlichten. So wurde, lange bevor dies im europäischen Inland geschah, ein Arbeitszwang durchgesetzt, und zwar ein Arbeitszwang ohne politische Rechte am Körper – im Gegensatz zur Lohnarbeit.


Die koloniale Kontroll- und Zwangslogik wurde mit dem Aufbau des Nationalstaates ins europäische Inland importiert, um einen Arbeitszwang im Sinne der Lohnarbeit durchzusetzen, sowie um Proteste von Arbeiter_innen zu zerschlagen. Von ihrer Entstehung an war der Schutzauftrag der Polizei also einer, der sich auf die Produktivität des Wirtschaftssystems bezog. Dieser Auftrag verlief zweigeteilt: Die Polizei regulierte sowohl die Arbeitskraft ohne politische Rechte – die Sklaverei –, als auch die Arbeitskraft mit politischen Rechten – die Lohnarbeit. Für die Wirkmacht und Produktivität der Polizei war die Ein- und Entgrenzung ihrer Souveränität ein wichtiges Mittel. Hierüber konnten Bewegungsfreiheiten eingeschränkt und Abgaben reguliert werden.

Historisch kann nachgezeichnet werden, dass sich diese Territoriallogik der Kontrolle zusehends auf die Bevölkerung ausweitete. Im kolonialen Indien fingen die britischen Kolonialbeamten beispielsweise damit an, die indische Bevölkerung mithilfe von Fingerabdrücken zu registrieren. Diese Technologie ‚reiste‘ viele Jahre und gelangte zurück nach Europa. Neben der Etablierung als polizeiliche Ermittlungsmethode wurden Fingerabdrücke und andere biometrische Daten dazu verwendet, Fliehende im Zuge der Kriminalisierung von Flucht und Migration zu registrieren und territorial einzuschränken. Inzwischen, und das können auch Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit bestätigen, gehört die Abgabe von Fingerabdrücken bei der Beantragung des Personalausweises zum Standard. Die Art und Weise wie die Polizei ihr Territorium konzeptionalisiert und damit auch kontrolliert, ist entscheidend für das Verständnis eines Polizierens.2 Denn über die Ein- und Entgrenzung ihrer Souveränität wird Herrschaft und Zugriff auf Menschen ausgeübt. Dem ‚Raum‘ kommt dabei eine spezifische Rolle zu, da Menschen durch ihn verteilt, angeordnet, hierarchisch organisiert oder konzentriert werden.

Verräumlichungen: Rassifizierte Geografien

Heutzutage erfreuen sich räumliche Kontrollmodi im städtischen Raum immer größerer Beliebtheit auf Seiten der Polizei und finden durch die Ausweisung von sogenannten ‚Gefahrengebieten‘, oder hier in Berlin auch durch Kennzeichnung bestimmter Zonen als ‚kriminalitätsbelastete Orte‘, statt. Ob und wo ein ‚Gefahrengebiet‘ eingerichtet wird, entscheidet dabei die Polizei selbst. Ihr kommen damit nicht nur weitreichende exekutive Befugnisse im Sinne parlamentarischer Sonderrechte zu, sondern auch initiativ Legislative und Judikative, da sie entscheidet, wer, wann, wo und mit welchem Straftatbestand kontrolliert und kategorisiert wird.3 Polizist_innen können in diesen Gebieten eigenständig und verdachtsunabhängig Kontrollen durchführen, da der Aufenthalt an sich als abstrakte Gefahr ausreicht. Diesen polizeilichen Grenzziehungen ist also gemein, dass sie proaktiv und somit im Vorfeld zur Wirkung kommen, während die Polizei ansonsten reaktiv, also im Nachgang, wirken soll. Der Polizei obliegt dabei die Definitionsmacht über „Lageerkenntnisse“, „Gefahr“ als auch „Gefährder_innen“.4 In Berlin-Neukölln liegen zwei dieser sogenannten kriminalitätsbelasteten Orte (kurz: KBOs). Die Polizei muss jedoch nicht ausweisen, wo sie sich für wie lange erstrecken, und begründet dies damit, dass niemand im Vorfeld wissen soll, wo es zu möglichen Kontrollen kommt.

‚Kriminalitätsbelastete Orte‘ sind jedoch nicht per se kriminalitätsbelasteter – viel eher kontrolliert die Polizei hier verstärkt, sodass es zu einem höheren Verzeichnis an kriminalisierten Taten kommt. Über diese wird wiederum eine erhöhte Kontrolle gerechtfertigt, sodass die Polizei das zu kontrollierende Subjekt, wie auch die Legitimität für die Kontrolle selbst schafft. Sich in diesem Gebiet Aufhaltende wie Anwohnende erleben damit einen permanenten Belagerungszustand, da sie qua Existenz und Lokalisierung einem kriminellen Generalverdacht unterliegen. Denn obwohl in der räumlichen Betrachtung dem Raumausschnitt selbst kriminogene Eigenschaften zugeschrieben werden, kann ein Raum an sich natürlich nicht kriminell sein. So wird durch die polizeilichen Kontrollmodi eine vermeintlich kriminelle Gruppe erst konstituiert. Nicht nur eine ‚gestalterische‘ Rolle des Polizierens wird durch diese Organisation und Ordnung des städtischen Raums deutlich, sondern ebenso die darüber laufende Perpetuierung von Unterdrückungsverhältnissen. Es geht um Orte wie Neukölln, in welche ökonomisch vulnerable Menschen erst gedrängt werden, um dann wiederum über polizeiliche Praxen weiter verdrängt und entrechtet zu werden. Allein von Januar bis Oktober 2021 gab es in Berlin-Neukölln 237 Einsätze gegen sogenannte Clan-Kriminalität in Form von Shishabar-Razzien. In diesem Fall geht es um die ganze Lebensweise einer vermeintlich delinquenten Gruppe von ‚Clanmitgliedern‘. Bisher konnten aber lediglich kleinere Delikte nachgewiesen werden: Vorrangig erfasst wurden beispielsweise unversteuerter Tabak und falsches Parken: „In Antworten auf parlamentarische Anfragen steht entweder deutlich, dass bei den Kontrolleinsätzen keine Anhaltspunkte auf Organisierte Kriminalität vorliegen – oder die Polizei windet sich aus ‚ermittlungstaktischen Gründen‘ um die Beantwortung der Frage“.5 Die Strategie der ‚1000 Nadelstiche‘ – von allen Seiten so lange zu zustechen, bis sich nichts mehr ‚getraut’ wird – soll durch Einschüchterung und Schikanen viel eher Macht demonstrieren, als dass sie der Bekämpfung von Straftaten dient. Das führte nicht zuletzt im Februar 2022 dazu, dass auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln verdachtsunabhängige Verkehrskontrollen mit Maschinengewehren durchgesetzt wurden.

Die koloniale Kontinuität im Sinne eines zweigeteilten Auftrags der Polizei wird hier besonders deutlich, denn im Kontext der räumlichen Kontrollmodi wird Armut polizeilich reproduziert: Der proaktive Zugriff auf die Menschen in Berlin-Neukölln entrechtet sie politisch und vulnerabilisiert sie damit ökonomisch, wobei sie zugleich als eigentliche ‚Gefahr‘ stigmatisiert werden. Die polizeilichen Praxen der politischen Entrechtung und Verteilung von Menschen führt zu Verdrängungen, die auch eine sozialtechnologische Funktion haben: Beispielsweise können so Gentrifizierungsprozesse beschleunigt werden. Der Bau einer Polizeistation am Kottbusser Tor im Februar 2023 verläuft nicht zufällig zeitgleich mit Plänen der weiteren ‚Aufwertung‘ und ‚Investierung‘ in Berlin-Kreuzberg.

Rassifiziert sind diese Räume also weniger durch die Menschen, die dort leben und arbeiten, oder die Begriffe, die ihnen zugeschrieben werden, sondern durch das Verhältnis dieser Räume zur weißen Vorherrschaft. So wird beispielsweise oftmals palästinensischen Geflüchteten, wie es bei vielen vermeintlichen ‚Clans‘ der Fall ist, sowohl die Staatszugehörigkeit als auch eine Arbeitserlaubnis verweigert. Sie sind damit ökonomisch prekarisiert, können sich nur in bestimmten Teilen Berlins niederlassen, und müssen sich aufgrund ihrer Entrechtung über andere Wege das Notwendige zum Überleben beschaffen. Diese Räume werden dann wiederum den besagten räumlichen Kontrollmodi unterzogen, sodass die ökonomische Prekarität aufrechterhalten und die Menschen vulnerabilisiert bleiben, sowie sie zusätzliche Repression und Stigmatisierung erfahren. Sie werden damit von derselben Logik angegriffen, die sie erst in diese Misere gestürzt hat.

Rassistische Unterdrückungsverhältnisse besitzen stets eine spezifische Geografie, die durch ein Polizieren und die Praxis der Errichtung von ‚Gefahrengebieten‘ geschaffen, markiert, sowie räumlich und sozial situiert wird. Soziale Wirklichkeit beruht so auch auf der Macht polizeilicher Operationen, welche die Bedingungen schaffen für rassistische Herrschaftsausübung als „dem spezifischen Mechanismus, der Schwarze Arbeit von einer Generation zur nächsten ‚reproduziert‘, an den Orten und in den Positionen, die race-spezifisch sind“6 Die Polizei schafft durch diese Selektivität und differentielle Logik Geografien der In- und Exklusion, die sie als Akteurin sozialer Ordnung und nicht öffentlicher Ordnung auftreten lassen.7 Rassismus ist damit keine individuelle Verhaltensweise, sondern staatlich als Sanktion greifende sowie extra-legale Gewalt zur Ausbeutung und zusätzlichen Vulnerabilisierung. Über die Regulierung erschaffener Räume und der darauf aufbauenden Vertreibung, Verteilung, Beschränkung und Benennung bestimmter Bevölkerungsgruppen, werden diese kontrolliert und buchstäblich an ihrem Platz gehalten.

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1 Frantz Fanon (1961[1981]): Die Verdammten dieser Erde, Baden-Baden: Suhrkamp, S. 31f, aus: Vanessa Eileen Thompson (2018): „’There is no justice, there is just us!’. Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling“, in: Daniel Loick: Kritik der Polizei, Frankfurt am Main: Campus Verlag, S.201.

2 Mit Polizieren ist hier, in Anlehnung an das englische policing, eine polizeiliche oder polizei-ähnliche Praxis der Logik herrschaftsförmiger Kontrolle gemeint, die von Polizist_innen, aber auch von nicht bei der Polizei direkt angestellten Menschen ausgeführt werden kann.

3 Vgl. Maximilian Pichl (2014): „Zur Entgrenzung der Polizei – eine juridische und materialistische Kritik polizeilicher Gewalt“, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Nr. 97/3, Nomos Verlagsgesellschaft, S. 263.

4 Golian, Schoreh (2019): „Spatial Racial Profiling. Rassistische Kontrollpraxen der Polizei und ihre Legitimationen.“, in: Tarek Naguib; Sarah Schilliger; Patricia Purtschert; Mohamed Wa Baile; Serena O. Dankwa: Racial Profiling: Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand, Bielefeld: Transcript, S. 110.

5 Vgl. Jorinde Schulz; Niloufar Tajeri (2022): Neuköllner Null-Toleranz und sozialräumlicher Rassismus. Wie mit der Debatte um die „Clankriminalität“ (Verdrängungs)-Politik gemacht wird, via Rosalux.de, Nachricht 13.06.2022. Online unter: https://www.rosalux.de/news/id/46645/neukoellner-null-toleranz-und-sozialraeumlicher-rassismus [Letzter Zugriff: 21.04.2023]

6 Sandra Bass (2001): „Policing Space, Policing Race: Social Control Imperatives and Police Discretionary Decisions.”, in: Social Justice, Nr. 28/1/83, S. 158.

7 Vgl. Loick/Thompson 2018.