Mutter Theresa trifft Brot und Spiele – HUch#95

| von Pari Aufstieg |

Anlässlich der Verfilmung und Premiere des fünften Teils von Die Tribute von Panem rekapituliert Pari Aufstieg die Filmreihe, die zumindest noch während der Veröffentlichungen der ersten vier Teile aufgrund der ‚starken weiblichen Hauptfigur‘ viele Feminist_innen in die Kinos lockte.

Bild: Ranja Assalhi

Die bisher vierteilige, unglaublich erfolgreiche Kinofilmreihe Die Tribute von Panem (engl. Originaltitel: The Hunger Games) basiert auf den gleichnamigen Romanen der US-amerikanischen Autorin Suzanne Collins. Protagonistin ist die sechzehnjährige Katniss Everdeen, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im Distrikt 12, einem der ärmsten Teile der von Collins dystopisch gezeichneten Welt Panem lebt. Katniss trägt seit dem Tod ihres Vaters und der daraus resultierenden Depression ihrer Mutter die Verantwortung für ihre Familie, übernimmt für ihre kleine Schwester Primrose eine Art Elternrolle und geht regelmäßig illegal in den umliegenden Wäldern jagen, um die Familie zu versorgen.

Der diktatorische Präsident von Panem, Coriolanus Snow, lebt im ersten und reichsten der 12 Distrikte, von dem aus alljährlich die titelgebenden ‚Hungerspiele’ veranstaltet werden. Diese Spiele ähneln Gladiator_innenkämpfen im antiken Rom und zumindest zu einem gewissen Teil auch modernen Reality Shows: ein brutales und gleichzeitig unterhaltsames Spektakel, das die Öffentlichkeit bequem auf der Leinwand verfolgen kann und bei dem jedes Jahr von 24 ausgelosten Tribut_innen – ein Junge und ein Mädchen aus jedem Distrikt – nur eine_r überlebt.

Nachdem im Distrikt 12 Primrose ausgelost wird, meldet Katniss sich freiwillig, um ihre Schwester zu schützen. Schonungs- und selbstlos springt sie für ihre Familie in die Bresche und schiebt ihre eigenen Wünsche und Träume für die anderen zur Seite. Diese Selbstaufopferung ist, wie die Zuschauer_innen schmerzhaft feststellen müssen, Katniss‘ wichtigster Charakterzug, welcher sich als Leitmotiv durch alle weiteren Filmteile zieht.

In der Arena, in der die anderen Tribut_innen versuchen, sich gegenseitig auszuschalten, ist Katniss vor allem darum bemüht, ihre Freund_innen Peeta aus dem Distrikt 12 und Rue aus dem Distrikt 11 zu beschützen. Und sie schafft es tatsächlich, sich und die zwei anderen immer wieder aus gefährlichen Situationen zu befreien. Schließlich gewinnt sie durch den Publikumsmagneten der Liebesgeschichte – zwischen ihr und Peeta bahnt sich eine heteronormative Romanze an – und die dadurch so effektive Drohung, sich selbst und ihren Partner umz4br1ng3n, die Hungerspiele. Dass der arme Distrikt 12 zum ersten Mal mit zwei Gewinner_innen aus den Spielen hervorgeht, bedeutet einen geradezu unglaublichen Ausgang und ermutigt die Menschen von Panem zu Aufständen: Nach und nach brechen Proteste und Revolten los.

Aus den Aufständen entwickelt sich schnell eine Revolution. Eine neue, befreite Gesellschaft soll entstehen, während Katniss von der Gesamtsituation überfordert ist. Sie konzentriert sich darauf, Peeta zu befreien, der in die Hände des autoritären Regimes geraten ist und fühlt sich hin- und hergerissen zwischen ihm und ihrem Jugendfreund Gale. Zusammengefasst ist die Revolution, die Entstehung einer besseren Zukunft, für Katniss Everdeen bloß Nebensache.

Dieser Umstand mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass Katniss keine engen Bezugspersonen hat, mit denen sie sich über ihre Gefühle oder den Zustand der Welt wirklich austauschen könnte: Um sie herum befinden sich nur cis-Männer, die ihr die Welt erklären. Die wenigen Möglichkeiten, solidarische Verbindungen v.a. zu anderen Frauen zu entwickeln, um der Vereinzelung durch patriarchale Strukturen etwas entgegenzuhalten, laufen ins Leere: Beispielsweise muss Katniss‘ Schwester, genau wie die jüngere Rue, beschützt werden. Die Betreuerin der Tribut_innen Effie aus dem Distrikt 12 kümmert sich zwar um ihre beiden Schützlinge, ist aber auch ziemlich oberflächlich. Cinna, der Stylist von Katniss, stirbt früh. Eine weitere Tributin, Johanna Mason, zeigt sich Katniss gegenüber zwar solidarisch, verhält sich aber allgemein unberechenbar und rachsüchtig. Cressida, die während der Filmaufnahmen von Katniss Regie führt, ist zu fixiert auf ihre Arbeit und die Präsidentin Alma Coin ist hinterhältig und grausam. Auch sie wird vor allem von Männern beraten und stellt sich für die Protagonistin sogar als die geheime Endgegnerin heraus. Frau gegen Frau: Auf was sollte es auch sonst hinauslaufen?

So konzentriert sich die einsame und verzweifelte Katniss weiterhin auf ihre persönlichen Probleme: die zwei Herzbuben Gale und Peeta. Gale fliegt im letzten Teil leider aus dem Rennen, sodass die Filmreihe malerisch endet: Katniss und Peeta mit ihren zwei Kindern auf einer Wiese beim romantischen Picknick und weicher Lichteinstellung. Katniss hat ihre praktische Kleidung gegen ein hübsches Kleid eingetauscht und hält ein Baby im Arm. Alles ist gut, dank idyllischer, heteronormativer Kleinfamilie.

In allen vier Filmteilen erfahren wir als Zuschauer_innen nichts über Katniss Everdeen als Person, nichts über ihre Interessen, Leidenschaften oder Freund_innen: nichts, was ihre Persönlichkeit auszeichnet. Durch die Fokussierung der Erzählung auf ihre Selbstlosigkeit bleibt die Protagonistin merkwürdig leer. Ganz so, als hätte sie überhaupt keine eigene Identität oder gar Selbstachtung, als würde sie nur existieren, weil die anderen ihre Hilfe brauchen.

Das Motiv dieses selbstlosen Beschützens, nicht des eigenen, sondern des anderen Lebens, ist für weibliche Hauptcharaktere klassisch, anstrengend und uralt. Bekannt ist diese vermeintlich weibliche, aufopfernde Selbstlosigkeit schon durch ikonographischen Darstellungen der christlichen Gottesmutter, durch Mutter Theresa als Sinnbild für Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Fürsorge und auch durch viele unserer Mütter und Großmütter: Wenn die Kinder ausziehen, wenn die Ehemänner sterben, wenn alle Menschen weg sind, denen geholfen werden kann oder die eigene Kraft zum Helfen versagt, dann hat frau ausgedient und ihr Leben gilt als wertlos, insbesondere für sie selbst.

Die vermeintlich natürliche Verbindung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit, die durch konservative Kräfte reproduziert und mit der christlichen Religionslehre und dem Nationalsozialismus zwei ihrer vielen furchtbaren Höhepunkte erreichte, lässt die Rolle der Aufopferung und Fürsorge für andere Leben, auch für Frauen, die keine Mütter sind, so unausweichlich erscheinen. Der Sinn beziehungsweise die Berechtigung der Existenz von Frauen ist nach diesem ideologischen und verstaubten, aber weiterhin wirksamen Bild dadurch legitimiert, Kinder zu gebären, zu hegen und zu pflegen. Und wenn wir kinderlos bleiben, dann doch bitte wenigstens weiterhin selbstlos: bis zum Äußersten für andere da sein und nicht für sich selbst; die eigenen Grenzen nicht wahrnehmen, nicht anerkennen und überschreiten; es nicht gut aushalten können, wenn keine Person da ist, um die sich gekümmert werden könnte; Angst vor dem allein sein haben; sich selbst nichts zutrauen; keine Leidenschaften zu haben außer der Liebe zu einer cis-männlichen Person; sich selbst und andere Frauen nur und ständig über diesen Aspekt des Kümmerns zu definieren und daran zu messen.

Das Konzept von Ordensschwestern und Nonnen zollt dieser tief verwurzelten, diskriminierenden und teilweise selbstgeißelnden Vorstellung genauso Tribut, wie anerkannte Lohnarbeitsbezeichnungen wie ‚Krankenschwester’ oder ‚Putzfrau’. Und auch unsichtbare Haushalts-, Pflege- und Fürsorgearbeit, Reproduktionsarbeit, emotionale Arbeit, Arbeit aus Liebe oder Care-Arbeit reihen sich in diese Verbindung ein, indem sie als natürliche Eigenschaften beziehungsweise ausfüllende Lebenskonzepte für alle Mütter, Frauen und Mädchen gelten. All dies sind Eigenschaften, die Katniss Everdeen, wenn auch gefährlich versteckt hinter dem ‚fight-Modus‘, verkörpert. Sie beschützt die anderen, sie kämpft und leidet für die anderen und in der Schlussszene erinnert sie im Grunde an die heilige Maria mit ihrem Kind.

Der Anspruch an eine feministische, dystopische Filmreihe und so genannte starke weibliche Hauptfiguren sollte es aber nicht sein, konservative Rollenzuschreibungen zu reproduzieren, sondern diese zu hinterfragen, zu kritisieren und über diese engen Horizonte hinaus zu denken, damit die Zuschauer_innen daran wachsen können.

Ein fünfter Teil hätte demnach Fragen danach aufwerfen oder beantworten können, was mit Katniss passiert, wenn sie sich bestimmten konservativen Strukturen widersetzt und diese Selbstaufopferung ablegt, wenn sie ein eigenes Leben führt, in dem sie sich um sich selbst kümmert, in dem sie solidarische Freund_innen, Leidenschaften und Interessen hat, die über cis-männliche Liebhaber hinausgehen. Es hätte eine aktive Entscheidung für die Revolution und für das neue Panem geben können und eine Auseinandersetzung damit, wie Katniss den Wandel in dieser neuen Welt nach der Revolution wahrnimmt, mitgestaltet, und was sie und ihre Freund_innen freier machen würde. Weitere interessante Momente der Filmreihen, die hätten ausgebaut werden können, aber leider nicht näher thematisiert werden, sind die Geschlechterrollen und Identitäten im reichen Distrikt 1, die sich zumindest teilweise von einem binären System zu unterscheiden scheinen oder auch Fragen von race und class, die in den bisherigen Filmen ebenfalls nur angeschnitten werden.

Bei dieser Fülle an Potenzialen müssen wir unsere Hoffnung nun auf die Fanfiction richten, denn der fünfte Teil beschäftigt sich bedauerlicherweise mit der weitaus uninteressanteren Vergangenheit des weißen, diktatorischen Präsidenten Coriolanus Snow. Es gibt sicher einige sinnvolle Gründe, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, weshalb Snow sich so grausam und brutal verhält. Aber dieser Teil zentriert damit nicht nur einen Herrschenden, sowie eine hinsichtlich race, class und gender privilegierte Figur: Die Zuschauer_innen werden zudem nach vier langen Teilen ‚Fokus Selbstaufgabe’ jetzt auch noch dazu motiviert, Verständnis, und im schlimmsten Fall auch Mitleid, für einen Täter zu entwickeln.

Mitleid, Verständnis und Fürsorge empfinden die meisten Zuschauer_innen dieser Filmreihe aber ganz bestimmt schon sehr gut. Und auch Filme und Bücher darüber, weshalb Menschen grausam wurden, gibt es in großer Zahl. Was es aber weder in Filmen und Büchern, noch in der Gegenwart genug gibt, sind Frauen, die sich nicht ständig und bis zur Selbstaufgabe um andere, sondern sich um sich selbst kümmern. Frauen, die Rücksicht auf sich selbst nehmen, die eigene Wünsche und Träume haben, daraus Interessen und Leidenschaften entwickeln und sich für sich selbst einsetzen: Rebellinnen, die sich den herrschenden Normen widersetzen und dafür Applaus, Zustimmung und gefüllte Kinosäle erhalten.