unsere chroncically ill schokoladenseiten – HUch#95

| von rosel rosero |

Bild: Ranja Assalhi

ableismus: ist das strukturelle diskriminierungsverhältnis, das dis/ableisierung konstruiert. ableisierung ist die normalvorstellung und normalisierte konzeptualisierung, die die privilegierung zu jeglichen formen von behinderung bildet. behinderung kann verschieden verwendet werden und sowohl eine zustandsbeschreibung zu einer person sein (›ich bin behindert‹) oder deutlich machen, dass eine bestimmte gesellschaftliche situation eine konkrete person oder personengruppe in ihrer entfaltung, bewegung und ihren möglichkeiten behindert. dies ist beispielsweise der fall, wenn fernsehsendungen nur sprechsprachlich und nicht auch gebärdensprachlich kommuniziert werden, wenn texte nur konventionalisiert schriftsprachlich und nicht auch in braille verschriftlicht sind, wenn seminarräume an der uni nur für personen, die ohne hilfe treppen steigen können, und nicht auch für rollstuhlfahrxs zugänglich sind. ich verwende den englischsprachigen begriff ableismus hier, da dieser parallel zu genderismus und rassismus gebildet wird und die strukturelle diskriminierung, die über eine normalsetzung von nicht-behindert in einer konkreten situation hergestellt wird, benennbar macht. die forschungs- und studienrichtung, die sich mit strukturellen diskriminierungen über behinderung und der privilegierung über nicht-behinderung befasst, heißt häufi g disability studies. disableisierungen sind in meiner lesart keine eigenschaften oder gar ›identitäten‹ von personen, sondern machtvolle hegemoniale herstellungsmechanismen, mit denen personen in gesellschaftlichen situationen konstruiert und platziert werden. die zuschreibung von disableisierung losgelöst von einer strukturellen analyse ist damit selbst ableistisch.1

Es ist dein dritter Anlauf, einen Text zu lesen. Du willst vorbereitet im Seminar erscheinen. Damit die Sitzung interessanter ist, aber auch, damit Du es später mit der MAP2 leichter hast. Deine Planung, wann Du welches Seminar vorbereitest, ist mal wieder nicht aufgegangen. Vielleicht war der Plan aber auch einfach unrealistisch. Eigentlich weißt Du, dass Du Puffer einbauen musst, weil Du chronisch krank bist. Eigentlich. Aber da ist ja noch das BAföG-Amt, dass Dir im Nacken sitzt und dich dazu bringt, unrealistische Pläne aufzustellen.

Dass die Einhaltung der Regelstudienzeit enormen Stress bedeutet, wissen alle. Dass ist sogar für die, die ohne chronische Krankheit leben, der Fall. Trotzdem wird an ihr festgehalten. Gesundheit wie immer keine prio.

Manche nennen deine Krankheit invisible disability, weil von außen Leute oft denken, Du seist able-bodied/minded. Was, wenn Dir nicht geglaubt wird, dass Du mehr Zeit für Dinge einplanen musst als andere, wenn Dir unterstellt wird, Du seist nur faul? Dann liegst Du wieder den ganzen Tag im Bett, um das zu verarbeiten. Aber selbst wenn sie Dir glauben, BAföG-Amt stresst trotzdem.

Ok jetzt hör auf, ist zwar ungerecht, aber Du hast jetzt keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Du musst den Text lesen. Also, dritter Anlauf.

Ne du traust Dich nicht, es nochmal zu probieren,

merkst wie sich anxiety in deiner Brust ausbreitet. Dieses beklemmende Gefühl, du atmest ganz flach, deine Muskeln sind angespannt. Was, wenns wieder nicht klappt? Wenn Du wieder vorm Text sitzt und nur Buchstaben siehst aber keine Wörter oder Wörter aber keinen Zusammenhang. Und dann diese Leere in Dir aufsteigt und dich verschluckt. . .

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Falls Du mit einer chronischen Krankheit lebst, bist Du nicht allein. Wer in einem Umfeld lebt, in dem selten (nie?) über das Leben mit chronischen Krankheiten gesprochen wird, fühlt sich oft isoliert. Indem wir diesen Aspekt unseres Lebens teilen, können wir solidarische Communities bilden und gemeinsam für die Sichtbarkeit dieser Lebensrealitäten sorgen. Eine Forderung könnte die realistische Anpassung der Regelstudienzeit sein, sowie die Sensibilisierung von Dozent_innen. Oder die Forderung von asynchronen Lehrformaten, so dass Personen in ihrem eigenen Tempo lernen können.

Auch für neurodivergente Personen kann das Studium eine Herausforderung darstellen. Im Herbst dieses Jahres wurde die ‚Neurodivergenz Uni-Gruppe‘ von Studierenden gegründet. Die Gruppe ist für „Autistische Personen, Personen mit ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Tourette und Personen, die als psychisch krank eingeordnet werden.“ Es wird darauf hingewiesen, dass diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Weiter heißt es auf einem ihrer Flyer „Kurz gesagt: Jede Person, die nicht so ‚funktioniert‘ wie gesellschaftliche Vorstellungen von ‚Normalität‘ es vorgeben und dadurch marginalisiert wird, ist hier herzlich willkommen!“. Du kannst der Gruppe beitreten, indem Du dich in den Moodle-Kurs ‚Neurodivergent Students‘ einträgst. Der Einschreibeschlüssel lautet TheNeurodivergentUmbrella. Im Moodle-Kurs findest Du Infos zu Treffen und Workshops.

Solidarische Unterstützung für Deinen individuellen Studienverlauf, sowie Studienfinanzierung findest Du z.B. in der Enthinderungsberatung. Zusammen mit der BAföG- und Studienfinanzierungsberatung wirst Du im Kontakt mit BAföG-Amt, Dozent_innen oder dem Prüfungsbüro unterstützt. Die Beratungen arbeiten unabhängig von Uni und Behörden. Sie werden von Studierenden für Studierende angeboten.

Kontakte

Behinderung / chronische Erkrankung – Enthinderungsberatung:

beratung.enthinderung@refrat.hu-berlin.de

BAföG- und Studienfinanzierungsberatung:

beratung.bafoeg@refrat.hu-berlin.de

Weitere Beratungsangebote findest Du unter: https://www.refrat.de/beratung.html

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1 lann hornscheidt: feministische w_orte : ein lern-, denk- und handlungsbuch zu sprache und diskriminierung, gender studies und feministischer linguistik, Brandes & Apsel, 2015, S. 357.

2 Modulabschlussprüfung: für die Leistungsanrechnung relevante Prüfung, meistens am Ende des Semesters.