Von Parteien lernen, ohne selbst eine zu werden – HUch#95

| von Olga Tiefenbacher |

Was können wir tun, um die Krise der linken Organisierung zu überwinden? Ein Plädoyer für stärkere Organisationsstrukturen – den Gefahren von Kooptierung und Elitenbildung zum Trotz.

Bild: Ranja Assalhi

Es läuft nicht gut für uns. Krise reiht sich an Krise, man kann sie kaum noch zählen, geschweige denn von ihnen hören. Was aber klar ist: Sie sind da, es sind viele und sie sind drängend. Wie steht es dabei um uns als linke Bewegung(-en), wie gelingt es uns, das Feld nach unseren Vorstellungen zu gestalten?

Nachdem wir in und mit der Klimabewegung in den letzten Jahren Millionen Menschen auf die Straße gebracht haben, haben wir nun eine sich grün nennende Partei im Parlament, die Lützerath abbaggert, Waffen nach Saudi-Arabien exportiert und das mit folgendem Satz kommentiert: „Wir haben die Waffenlieferungen nicht beschlossen, obwohl wir eine Menschenrechts- und Friedenspartei sind, sondern weil wir eine Menschenrechts- und Friedenspartei sind.“[1] Die Akzeptanz des Status quo wird also als Verantwortung und progressive Politik gefeiert. Nach dem großen Erfolg des 2021 gewonnenen Volksentscheids von Deutsche Wohnen und Co. Enteignen setzt die Berliner Regierung mit der SPD an ihrer Spitze nun alles daran, die Umsetzung desselben zu verschleppen und der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen: Im Rahmen einer sogenannten „Expert_innen-Kommission“ wird der Konflikt entpolitisiert und auf vermeintliche juristische Sachfragen reduziert. Diese beiden Beispiele zeigen, dass die seit 1990 vorherrschende Ideologie der Alternativlosigkeit des Kapitalismus zwar jede Überzeugungskraft verloren hat, der Glaube und das Beharren auf die Veränderung der Verhältnisse da sind – sich diese jedoch nicht (ausreichend) in realpolitische Veränderungen übersetzen. Die Massen auf der Straße und 370.000 Unterschriften für die Enteignung der großen privaten Immobilienkonzerne in Berlin sind Ausdruck starker Mobilisierungen. Allerdings fehlt es uns an Macht, diese auch in tatsächliche Veränderung im eigenen Sinne zu übersetzen.

Weite Teile der Bewegung(-en) suchen aktuell die Antwort darauf, wie sich das ändern kann: Wir stellen uns die Frage, wie aus der Defensive herauszukommen ist. Vieles müsste sich ändern und unsere Schwäche ist nicht ausschließlich durch eigene Fehler begründet. Die Ausgangsbedingungen für linke Stärke sind in den gegebenen Verhältnissen schlicht auf unseren Nachteil ausgelegt. Nichtsdestotrotz gibt es eine nicht zu unterschätzende Schwachstelle in unserer Form uns zu organisieren, die unseren Dauerposten in der Defensive mitbegründet.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Niedergang der sogenannten „Systemkonkurrenz“ und dem von Neoliberalen proklamierten „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) greifen alte Formen der Organisierung nicht mehr, die den im Keynesianismus herrschenden Kompromiss von „harter Arbeit gegen soziale Sicherheit“[2] verhandelt haben. Infolge der Weltwirtschaftskrise begann ab 2011 ein starker Bewegungszyklus – paradigmatisch stehen dafür die Proteste rund um Occupy-Wall-Street, die auf der ganzen Welt tausende Menschen auf die Straßen mobilisierten. Grundsätze der Organisierung, die diesen Bewegungszyklus dominierten, bestimmen nach wie vor weite Teile der Bewegung(-en). Es handelt sich dabei um horizontale, direktdemokratische Praktiken, wie zum Beispiel konsensuale Entscheidungsfindung; alten, repräsentativen Institutionen der Interessenvertretung wie Parteien und Gewerkschaften wird mit Ablehnung und Skepsis begegnet.[3] Diese Skepsis ist historisch begründet und kann mit guten Argumenten aufwarten – Korporatismus, Zentralismus und die Entstehung von Parteieliten, „in denen Autorität, Hierarchie, Instrumentalisierung, Entfremdung der Mitglieder sowie Bürokratie reproduziert werden“[4], finden sich im Laufe der Geschichte mehr als einmal. Die horizontalen Organisierungsansätze sind in kritischer Reaktion auf diese Entwicklungen entstanden – warum es also nicht dabei belassen? Wo ist das Problem an dieser neuen Form der Organisierung?

Die Mobilisierungs-fokussierte(-n) Bewegung(-en) sind nicht spontan im Stande, sich einen organisierten politischen Ausdruck zu geben. Insofern die kapitalistische Hegemonie strukturell ist, bedarf es aber eines organisierten Widerstands, den Mobilisierung allein nicht leisten kann.[5] Die Landschaft linker Organisierung erinnert an einen Flickenteppich, an einzelne Fragmente eines nicht zueinander findenden Ganzen. Einzelne Gruppen stehen in einem eher losen Kontakt zueinander und arbeiten, wenn überhaupt, anlassbezogen zusammen. Kleinere Initiativen haben aber allein nicht die Macht, die appellative Ebene zu verlassen und eigene Forderungen umzusetzen. Viele kleine Nadelstiche bleiben entweder unbemerkt oder werden von herrschender Seite einverleibt. Sich bloß auf selbstverwaltete Projekte zu konzentrieren, in direct help-Projekten zu engagieren und so allein antikapitalistische Inseln zu bauen, ist unzulänglich, weil diese den Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihm das ganze Festland überlassen.[6] Ob Occupy-Wall-Street, der bereits angeführten Klimabewegung oder den Gelbwesten in Frankreich, keiner dieser Bewegungen ist es gelungen, die eigenen Anliegen tatsächlich umzusetzen. Während wir verbal radikal unsere Ablehnung gegen den Status quo auf die Straße tragen, wird die strategische Frage nach Hebelpunkten zur Veränderung kapitalistischer Verhältnisse zu wenig gestellt – mit dem Ergebnis, dass das Gros unserer Politiken über den Appell an den Staat nicht hinauskommt. Wir brauchen längerfristige und übergeordnete Strukturen der Organisierung, um unsere Kämpfe tatsächlich auch zu gewinnen, eine Organisierung, die nicht nur revoltiert, skandalisiert und diskursiv interveniert, sondern selbst gestalten kann.

Wie können wir zur Akteurin werden, die selbst bestimmen und setzen kann, die nicht bloß im Widerstand, im Dagegen verhaftet bleibt und letztlich doch auf die Umsetzung durch die herrschende Regierung angewiesen ist? Welche Form der Organisation müssen wir uns als linke Bewegung(-en) geben, um die herrschenden Verhältnisse gen Kommunismus zu verändern? Für die Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, einen genaueren Blick auf Parteien zu werfen. Warum ausgerechnet Parteien? Sie sind weder dafür bekannt, dem revolutionären Potential zu mehr Stärke zu verhelfen, noch ist der mit ihnen assoziierte Bürokratismus besonders anturnend. Ständig machen wir die Erfahrung, dass auf die Linkspartei im Parlament kein Verlass ist. Sowohl aktuell als auch historisch lässt sich immer wieder beobachten, dass Parteien zur Bildung von Eliten tendieren, deren Macht sich aus der Kontrolle über die Partei speist. Wenn Parteifunktionär_innen materiell von ihrer Position abhängig sind, wird der Erhalt eben dieser zum Selbstzweck und erhebt sich über politische Fragen.[7] Interessant sind dabei weniger das Nachdenken über eine (neue) parlamentarische linke Partei,[8] als die Frage nach Formen der revolutionären Organisation, die unsere Kräfte, Bewegungen, Initiativen zusammenführt, wachsen lässt und uns zu mehr Macht verhilft, ohne Teil des parlamentarischen Apparats zu sein. Historische und zeitgenössische Beispiele hierfür sind die Black-Panther-Party, die PKK oder die Naxaliten in Indien.

Warum also auf Parteien zurückgreifen, wenn sie ihre Fallstricke historisch immer wieder unter Beweis gestellt haben? Zum Ersten, weil sie (historisch und auch aktuell) die Form sind, in welcher sich Massen organisieren. Macht generiert sich entscheidend aus Masse. Als Randgruppe lässt sich demnach nicht verändernd auf die herrschenden Verhältnisse einwirken. Eine Form der Organisation zu bauen, mit der wir unsere Kämpfe tatsächlich auch gewinnen können, heißt auch, sie aus ihrer lokalen und personellen Begrenztheit hinauszutreiben. Es stellt sich also die Frage, wie wir wachsen können und wie wir eine linke Massenorganisation werden. Dafür braucht es gegenüber den heutigen Bewegungen veränderte Bedingungen für Partizipation, um es auch – oder gerade – denjenigen, die am meisten von den multiplen Krisen betroffen sind, zu ermöglichen, sich politisch zu organisieren. Die Parteiform hat sich dabei bewährt, die Diversität verschiedener Ressourcen abbilden und auch weniger zeitintensive Formen der Beteiligung gewährleisten zu können.

Zum Zweiten, weil sie Kräfte bündeln kann. Dies ist auf mehreren Ebenen von Bedeutung. Erstens ermöglicht eine gemeinsame Struktur eine gemeinsame Programmatik. Diese sollte die Wurzel bestehender Widersprüche benennen, radikal sein, die Schmalspurigkeit hinter sich lassen und „mehr Provokation wagen“[9], wie Bini Adamczak es formuliert. Gemeinsame Forderungen ermöglichen es, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen ohne die Notwendigkeit geteilter Identität zusammenkommen.[10] Ich halte es für einen Irrtum, dass radikale Forderungen Menschen abschrecken. Was Linke eher unattraktiv macht, ist das Fehlen einer Akteurin, die diese Forderungen tatsächlich auch umsetzen kann. Vor diesem Hintergrund verkommt die eigene Programmatik dann leicht zu Verbalradikalismus. Dazu ist die Bewegung des Zusammenführens, der Zentralisierung auch durch die Struktur des Gegners selbst begründet: „[M]an braucht […] Zentralismus, weil die herrschende Klasse in hohem Maße zentralisiert ist“[11], wie es der Sozialist Tony Cliff 1997 auf einem Marxismus-Kongress formulierte. Kräfte zu bündeln bedeutet drittens, schneller und effektiver auf politische Geschehnisse reagieren zu können, insofern mehr personelle, materielle und Wissensressourcen zur Verfügung stehen.

Wie also das Potential von Parteien übernehmen, ohne selbst eine (schlechte Version derselben) zu werden? Indem wir eine doppelte Bewegung vollziehen, nämlich Zentralisierung und Dezentralisierung; lokale Autonomie erhalten, ohne darin überregionale Strukturen zu vernachlässigen; Entscheidungen an der Basis treffen und zugleich eine koordinierte gemeinsame Strategie verfolgen. Um Dynamiken des Autoritarismus und Karrierismus zu unterbinden, müssen die Basiseinheiten einer Organisation ihre Repräsentant_innen kontrollieren, und dabei ihr Selbstvertrauen und ihr Organisationsgrad gestärkt werden. Mit welchen Mitteln dies möglich ist, lässt sich ebenfalls historisch beantworten: durch imperative Mandate, rotierende Zuständigkeiten und die Zugänglichkeit zu Strukturen. Beispiele starker linker Organisationen der letzten Jahre wie die linken Wahllisten in Spanien nach 2011 oder die CUP in Katalonien hatten immer eine starke soziale Verankerung, die ihren Erfolg entscheidend der Verortung in konkreten Kämpfen und lokaler Organisierung verdankten. Die Aufgabe liegt also darin, Strukturen zu institutionalisieren, die den Organisationsgrad aller erhalten, einer Passivierung vorbeugen und die Macht an und in der Basis sichern, ohne sich im Kleingruppen-Klein-Klein zu verlieren. Oder, um es in den Worten des italienischen Sozialisten Mimmo Porcaros zu sagen: „Ohne [gemeinsame Strategie] gibt es keine politischen, rechtlichen und ökonomischen Ressourcen, die es […]  Basis-Institutionen erst ermöglichen, eine neue soziale Ordnung zu errichten und – noch davor – die Krise zu überleben.“[12]

Um zu gewinnen, endlich aus der Defensive herauszukommen und dem desaströsen Verlauf der Dinge eine andere Wendung zu geben, brauchen wir mehr Macht: Und für Aufbau ebendieser bedarf es einer anderen Form der Organisierung. Gewinnen heißt dann aber auch, im Aufbau einer solchen Organisierung den hier skizzierten möglichen und historisch mehrfach erwiesenen Fallstricken vorzubeugen. Das Bewusstsein für die Existenz solcher Fallen sollte uns jedoch nicht davor zurückschrecken lassen, am Aufbau einer verbindenden Akteurin zu arbeiten, auf die wir für das Ziel, mächtiger zu werden, nicht verzichten können.


[1]tagesschau: Brauchen europäische Rüstungskooperation, 15.10.2022, online unter: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/gruene-403.html  (zuletzt geöffnet: 9.11.2022)

[2]Vgl. Christina Kaindl / Rainer Rilling: Eine neue „gesellschaftliche Partei“?, in: Luxemburg 04/2011, S. 17.

[3]Vgl. Dario Azzellini: Ein Epochenbruch. Die neuen globalen Proteste zwischen Organisation und Bewegung, in: PROKLA, 01/2014, S. 502ff.

[4]Kollektiv aus Bremen: Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik, 06.10.2016, online unter: http://dialogt.eu/bremen_kollektiv (zuletzt geöffnet: 8.11.2022)

[5]Vgl. Jan Ehrey / Katja Wagner: Wer keine Sekte bleiben will, braucht eine Partei, in: ak 01/2022, S. 24f.

[6]Vgl. Benoit Bréville / Serge Halimi: Trauerspiel in Rot, in: Le Monde diplomatique, 01/2022, S. 12f.

[7]Vgl. Loren Balhorn: Wir brauchen Parteien. Aber nicht solche. Ein Rückblick auf Robert Michels’ „ehernes Gesetz der Oligarchie“, in: Jacobin #6/2021, S. 70f.

[8]Auch wenn parlamentarische Parteien hier nicht im Fokus stehen, sei angemerkt, dass es dringend eine starke linke Version im Parlament bräuchte, um die Ausgangsbedingungen für revolutionäre linke Politik zu verbessern.

[9]Bini Adamczak: Mehr Provokation wagen!, in: LUXEMBURG 12/2021, online unter: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/mehr-provokation-wagen/  (zuletzt geöffnet: 8.11.2022)

[10]Vgl. Nick Srnicek / Alex Williams: Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit, Edition Tiamat, S. 263.

[11]Tony Cliff: Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen, Juli 1997, online unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/cliff/1997/07/revpart.htm#s7 (zuletzt geöffnet: 9.11.2022)

[12]Mimmo Porcaro: Occupy Lenin, in: LUXEMBURG 1/2013, online unter: https://zeitschriftluxemburg.de/artikel/occupy-lenin/ (zuletzt geöffnet: 9.11.2022)