Deutsche Linke und der Krieg in der Ukraine – HUch#95

| von Anna Shurko |

Auch Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine ist die Diskussion um den politischen Umgang damit und die Positionierung dazu bei Weitem nicht abgeschlossen. Unsere Autorin hat ein Plädoyer verfasst, das nicht nur Waffenlieferungen kritisiert, sondern auch blinde Flecken in der deutschen Linken aufdeckt.

Bild: Ranja Assalhi

Selbstgebastelte Molotow-Cocktails, Barrikaden aus brennenden Autoreifen und ein heroisches „Wir wollen euch hier nicht!“ schmücken seit Beginn des Krieges in der Ukraine die öffentliche Medienlandschaft und beeinflussen besonders linke Debatten um Kriegshaltung und Solidarität in Deutschland.[1]

Ganz energische Linke fordern die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine, den militärischen Eingriff der NATO oder feiern ganz einfach die scheinbar geschlossene ukrainische Nation ab, die schimpfend und mit Schlappen in der gereckten Faust die russische Invasion verhindert. Währenddessen sammeln deutsche Anarchist_innen Waffen für rechtsextreme Freiwilligenverbände,[2] an Türen von Toilettenkabinen in Berliner Universitäten steht der nationalistische Gruß „Слава Україні! Героям слава!“ (Sláva Ukrayíni! Heróyam sláva!, dt. Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!) und ich werde in Diskussionen mit Freund_innen, Genoss_innen und Arbeitskolleg_innen schockiert gefragt, wieso ich mich als Person mit ukrainischer Zuwanderungsgeschichte denn nicht bedingungslos mit der Ukraine solidarisieren würde.

Um bereits aufkeimende Missverständnisse aufzufangen, möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass ich mich durchaus mit Menschen solidarisiere, die in dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland von Elend und Not betroffen sind. Dabei reduziere ich mein Mitgefühl aber nicht auf ein Land. Es geht mir viel mehr darum, mich gegen eine erzwungene Parteinahme zu wehren und den Krieg als einen Konflikt zu nehmen, der von machtpolitischen Interessen des Westens sowie Russlands getrieben wird. Außerdem festigt sich in mir nicht nur Frustration und Wut über einen Krieg, der tausende Menschenleben opfert, sondern auch Fassungslosigkeit über deutsche Linke, die sich der deutschen Kriegsbegeisterung hingeben.

Was die oben erwähnten Momente als kämpferischen Widerstand gegen imperialistische Mächte aus dem Osten bebildern, ist in Wahrheit die Romantisierung einer Situation, in welche die ukrainische Bevölkerung durch staatliche Herrschaft gezwungen wurde: Das ukrainische Innenministerium sowie die ukrainische Armee fordern Zivilist_innen dazu auf, Molotow-Cocktails in ihren Hinterhöfen zu basteln, Straßenschilder abzumontieren, damit die russische Armee orientierungslos durch das Land streift, und Bäume am Wegesrand zu fällen, um den russischen Vormarsch zu stoppen.[3] Dieser Umstand zeigt nicht auf, wie unbeugsam und heldenhaft das ukrainische Volk ist, sondern wie Menschen vor Ort vom Staat zu Kriegsopfern und -täter_innen gemacht werden.

Dabei ignorieren viele links und liberal gesinnte Menschen in Deutschland, dass die ukrainische Bevölkerung nicht so geschlossen hinter ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem Militär steht, wie es in jeder Nachrichtensendung dargestellt wird. Durch seine politische Gewalt hat der ukrainische Staat der Bevölkerung einen Verhaltenskodex auferlegt, der alternativlos erscheint: Kriegsdienstverweigernde müssen ins Gefängnis, die Flucht nach Russland wird unterbunden und bestraft und Personen mit einem ‚M‘ im Pass dürfen die Landesgrenzen nicht übertreten.[4] Natürlich gibt es auch die ein oder anderen Freiwilligen, die sich gerne und willentlich für ihre Nation aufopfern, aber der Großteil der ukrainischen Bürger_innen will aus dem Land flüchten oder einfach überleben – und das schon seit den Maidan-Protesten in Kiew, der Ausrufung der Volksrepubliken im Osten des Landes und der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014.

Streng genommen befindet sich der ukrainische Staat nämlich schon seit acht Jahren im Kriegszustand. Die schon vor dem Krieg wertlose Währung Hrywnja verfällt immer weiter, das monatliche Durchschnittseinkommen von 300 Euro bringt die Menschen in fortwährende Existenzkrisen, Rentner_innen sterben in ihren Wohnungen, weil es an Geld und Infrastruktur für Lebensmittel, Heizung und Pflege mangelt und jahrelange Binnenflucht aus der Ostukraine überfordert Gemeinden im Westen des Landes. Trotz dieser objektiv schlechten materiellen Lage der Ukrainer_innen werden sie mithilfe politischer Staatsgewalt dazu gedrängt, für diesen in sich zusammenfallenden Staat zu kämpfen. Ukrainische Nationalist_innen nehmen diesen Auftrag genau so gerne an wie deutsche Linke oder Liberale: Auch wenn dieses Land bis auf die letzte Hausfassade zerstört wird, sollen Ukrainer_innen aus diesem Krieg als Sieger_innen ihrer Nation hervorgehen.

Was Linke und Liberale hier als tapferen Unabhängigkeitskrieg eines postsowjetischen Volkes zelebrieren, ist eigentlich die pure Handlungsmacht einer Staatsgewalt, die im Kriegszustand rechtlich auf ihr Volk zugreifen darf, kann und dies auch tut: sie lässt die Menschen als Manövriermasse morden und sterben.

Absurder wird es, wenn einige Linke ukrainische Soldat_innen aus der LGBTQIA*-Community unterstützen wollen: Sie richten PayPal-Konten für Spendensammlungen ein, verbinden das historische Erbe des ukrainischen Faschisten Stepan Bandera mit ihrem eigenen Befreiungskampf und schreien nach queerer Repräsentation und Gleichstellung innerhalb des Militärs – damit auch queere Menschen sowie Frauen als unterdrückte Minderheiten ein Recht auf eine Nation haben, für die sie begeistert sterben würden.[5]

Die empörte Aufforderung seitens solcher Leute, in diesem Krieg bedingungslos für die Ukraine Partei ergreifen zu müssen, zeigt auf, wofür emanzipatorische Bewegungen in Deutschland in diesem Fall kämpfen: Mehr Waffen, mehr NATO, mehr ‚europäische‘ Werte; denn hier ist nicht nur die Souveränität eines jungen Nationalstaates bedroht, in dem die Bevölkerung bereits vor dem russischen Angriff verelendet ist, sondern ein ganzer westlicher Wertekanon, für den sich auch Linke in Deutschland engagieren.[6] Dass sie dabei die Kriegsursache nicht in geopolitischen und ökonomischen Interessen sondern in der moralischen Aushandlung von Werten sehen, zeugt von einer politischen Haltung, die jeden bewaffneten Konflikt als Wertekonflikt beurteilt: Das Gute gegen das Böse, Demokratie gegen Autokratie, gute Herrschaft gegen schlechte Herrschaft.

Diesbezüglich werden Individualismus und Militarismus problemlos als progressive Ideale miteinander in Einklang gebracht, während deutsche Linke meinen, kommunistischen Antimilitarismus als naiven Pazifismus entlarven und diffamieren zu müssen.[7] Die Militarisierung einer ganzen Gesellschaft führt aber dazu, dass sich am Ende Lohnarbeiter_innen unterschiedlicher Nationen feindlich gegenüberstehen, um die Interessen ihres Staates durchzusetzen − die häufig nicht ihre eigenen Interessen sind, sondern durch staatliche Herrschaft zu ihren eigenen Interessen gemacht werden.

Anhand dieser Beispiele wird also deutlich: Wir müssen uns als Linke nicht damit beschäftigen, wer kämpft, sondern wofür gekämpft wird. Wenn Linke mehr Waffenlieferungen aus der EU fordern[8] und Studierende „close the sky“ auf ihre Demo-Pappschilder schreiben, dann verlangen sie damit mehr Krieg − und reihen sich genau in die offizielle Position Deutschlands ein. Keine Rede mehr von Abschaffung von Armut oder Herrschaft, der Bereitstellung sicherer Fluchtwege für Zivilist_innen aus Kriegsgebieten oder der Rolle massenhafter Streiks an ökonomisch wichtigen Standorten, um Kriegshandlungen beider Seiten zu blockieren.

Nein, deutschen Linken und Liberalen geht es in diesem Abnutzungskrieg anscheinend um einen souveränen ukrainischen Staat, der sich für den demokratischen Westen und dessen ach so verteidigungswürdige Werte stark macht. Dass dabei ganze Dörfer und Städte zerstört werden, Menschen ihre sowieso schon miserable materielle Grundlage entzogen wird und eine ganze Generation traumatisiert aus diesem Krieg entlassen wird, ist für die deutsche Linke nicht weiter von Belang – hauptsache ist, dass es eine unabhängige Ukraine gibt, die den autoritären Russen genauso hasst, wie es der Westen tut.


[1] Jonas Wahmkow (21.06.2022): Solidarität, aber richtig. Online unter: https://taz.de/Linke-Bewegung-und-der-Ukraine-Krieg/!5862044/

[2] Jonas Wahmkow (28.06.2022): Geeint im Widerstand. Online unter: https://taz.de/Anarchistinnen-in-der-Ukraine/!5860889/

[3] RTL News (11.03.2022): Widerstand in der Ukraine. Molotow-Cocktails, Reifen verbrennen, Straßenschilder entfernen. Online unter: https://www.rtl.de/cms/widerstand-in-der-ukraine-molotow-cocktails-reifen-verbrennen-strassenschilder-entfernen-4926201.html

[4] Theo Wentzke (08.06.2022): Mystifizierte Nation. Unpassende Klarstellungen zur Legende vom einig-geschlossenen-heldenhaft kämpfenden ukrainischen Volk. Online unter: https://www.jungewelt.de/artikel/428059.ukraine-krieg-mystifizierte-nation.html

[5] Paula Balov (23.03.2022): Verteidigung der Ukraine. LGBTIQ* im Militär. Online unter: https://www.siegessaeule.de/magazin/verteidigung-der-ukraine-lgbtiq-im-milit%C3%A4r/

[6] GegenStandpunkt 2-22 (24.06.2022): Unsere Ukrainer. Online unter: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/unsere-ukrainer

[7] Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West (12.07.2022): Der Krieg, die Ukraine und das Dilemma der Linken mit der Solidarität. Online unter: https://geschichtevonuntenostwest.net/2022/07/12/der-ak-wird-2021-keine-prasenzveranstaltung-mehr-durchfuhren/

[8] Bundesregierung (09.08.2022): Krieg in der Ukraine. Militärische Unterstützungsleistungen für die Ukraine. Online unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514