Mit Adorno zu transinklusivem Feminismus – HUch#94

| von Ronja Arndt |

Der in diesem Jahr erschienene Sammelband „Kritische Theorie und Feminismus“ besteht aus einer breit gefächerten Auswahl an Texten zu dem titelgebenden Themenkomplex. Wenngleich dieses Thema bereits in der Vergangenheit stellenweise behandelt wurde, so wird hier eine neue Bandbreite geboten. Jene Bandbreite umfasst sowohl Texte, die durch ihre analytische Schärfe und das Verknüpfen bisher getrennt gedachter Ideen hervorstechen, als auch weniger überzeugende Gedankengänge.

Bild: Felix Deiters

Kritische Theorie, das sind doch diese alten, weißen Männer namens Adorno und Horkheimer, die sich auf andere alte weiße Männer namens Marx und Freud beziehen. Mit Feminismus hätte das nichts zu tun und überhaupt sollten weniger alte weiße Männer gelesen werden – so oder so ähnlich lauten häufig die Aussagen zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Feminismus. In diesen Verallgemeinerungen sind nicht nur einige fragwürdige Gedanken zur Kritischen Theorie selbst enthalten, es wird auch das grundlegende Potenzial der Kritischen Theorie verkannt.

Während es bereits viel feministische Kritik an der Kritischen Theorie als solche gibt, so ist in den letzten Jahren nochmal Fahrt in die Betrachtungen zum Verhältnis von dieser und feministischen Perspektiven gekommen. Es geht nicht nur darum, negative Kritik auszuteilen, sondern die Möglichkeiten für feministische Theorie weiterzudenken. Bisher beschränkt sich dies weitgehend auf akademische bzw. akademisch geprägte Kreise – mehr Zugänglichkeit wäre dabei durchaus wünschenswert. So erschien 2018 Barbara Umraths Dissertation zum Thema Geschlechterverhältnisse und Kritische Theorie. Darin widmete sie sich der Frage, welche Anknüpfungspunkte die Kritische Theorie denn eigentlich so für feministische Theoriearbeit zu bieten hat. Nach diesem dicken Brocken folgt nun ein Sammelband aus dem Suhrkamp-Verlag zum gleichen Thema, dieses Mal herausgegeben von Karin Stögner und Alexandra Colligs. Gerade erstere dürfte Personen, die sich mit Kritik an intersektionalen Identitätspolitiken beschäftigt haben, bereits vertraut sein. Der Sammelband selbst bietet eine Zusammenstellung von 18 Texten über mehr als 300 Seiten.

An dieser Stelle ist bereits anzumerken, dass es sich keinesfalls um ein Einstiegswerk zum Thema handelt. Zugänglichkeit wird, ihrer akademischen Form verschuldet, bei den meisten Texten kleingeschrieben. Dennoch lohnt sich eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Überlegungen. Diese sind zunächst in fünf Blöcke aufgeteilt: von einer Einführung über feministische Ideologiekritik, Perspektiven auf Produktion und Reproduktion und dem Streit um Identität, Subjekt und Differenz bis hin zu psychoanalytischen Perspektiven. Damit wird ein breites Feld abgedeckt und bis auf zwei Beiträge (von Gudrun Axeli-Knapp sowie Nancy Fraser) handelt es sich um Originalbeiträge. Die spezifischen inhaltlichen Schwerpunkte der Autor_innen knüpfen wiederum an ihre bekannten Arbeiten an. Es ist beispielsweise nichts Neues, wenn Christine Achinger zu Geschlecht und Antisemitismus schreibt oder etwa der von Nancy Fraser gewählte Beitrag eine an Polanyi orientierte Sicht auf Kapitalismus bietet. Dies ist aber auf keinen Fall negativ zu beurteilen, da gerade solche Beiträge einen Einstieg in die sonstigen Arbeiten der Autor_innen vereinfachen können. Wer zum Beispiel schon immer mal das gemeinsame Buch von Rahel Jaeggi und Nancy Fraser zu Kapitalismus lesen wollte und zu eingeschüchtert von dem Umfang war, hat einen soliden Startbonus durch Fraser und Jaeggis Beiträge. Leider können nicht alle Beiträge das gleiche Niveau in der Argumentation aufrechterhalten, was bei einem Sammelband dieses Umfangs jedoch zu erwarten ist.

Personen, die sich bereits in der Vergangenheit mit feministischen Streitthemen rund um Kritische Theorie und Postmoderne beschäftigt haben, kommen nochmal besonders auf ihre Kosten. Der Sammelband beinhaltet je ein Interview mit Seyla Benhabib und eins mit Rahel Jaeggi. Beide blicken auf vergangene Auseinandersetzungen im (akademischen) Feminismus zurück, insbesondere auf den u.a. von Benhabib, Nancy Fraser und Judith Butler verfassten Sammelband Streit um Differenz. Dabei bleibt es nicht nur beim Bezug auf Vergangenes: Ein Highlight ist der Beitrag Frau als negatives Subjekt von Dagmar Wilhelm, in welchem aktuelle Debatten aufgegriffen und klug vorangetrieben werden. Dabei schafft Wilhelm einen gekonnten Spagat zwischen der brennend aktuellen Frage, wer jetzt eigentlich zum politischen Subjekt Frau zählt und einer tatsächlich verständlichen Erklärung von Adornos Negativer Dialektik – und wie genau diese bei der Beantwortung der Frage hilft. Alleine die gut verständlichen Ausführungen zur Negativen Dialektik verdienen eine positive Erwähnung, denn wie häufig findet man schon einmal tatsächlich hilfreiche Erklärungen zur Theorie Adornos – und vor allem der Negativen Dialektik – anstelle eines bloßen intellektuellen Schwanzvergleichs? Aufbauend auf der Negativen Dialektik appelliert Wilhelm an dieser Stelle also für einen transinklusiven Feminismus. Auch wenn dies nur als Beiprodukt der restlichen Überlegungen geschieht, ist dies eine der ersten (traurigerweise vielleicht sogar die erste) abgedruckte Argumentation zur Verbindung von trans liberation und Kritischer Theorie.

Neben Wilhelms Beitrag ist auch jener Barbara Umraths positiv hervorzuheben. Wie bereits in ihrer Dissertation stellt Umrath wortgewandt feministische Anschlusspunkte, in diesem Fall bei Herbert Marcuse, hervor. Marcuse ist eine naheliegende Wahl, da er einst verschiedene Überlegungen zu sozialistischem Feminismus veröffentlichte und Zeit seines Lebens in ausgiebiger Diskussion mit Feminist_innen stand. In ihrem Text bietet Umrath einen übersichtlichen Einstieg zu Marcuses Denken, historischen Begebenheiten und relevanten Aspekten der Psychoanalyse. Natürlich lässt Umrath dies nicht unkommentiert stehen, sondern arbeitet eine sorgfältige Kritik heraus. Ähnlich wie bei Frasers bzw. Jaeggis Beitrag bietet dieser Text sich an, ihn vor ausführlicheren Arbeiten zu lesen, um einen soliden Überblick zu gewinnen.

Wie bereits erwähnt, schwankt an manchen Stellen leider die Qualität der Beiträge und nicht alle bewegen sich auf der gleichen Ebene wie die bereits Genannten. Ein solches Negativbeispiel ist Petra Klugs Text zu feministischer Religionskritik am Beispiel des Islams. Neben Klugs ausführlichem Nachzeichnen aktueller Debatten verblasst ihre eigene Position sichtlich. Es bleibt unklar, welche Position sie selbst vertritt und weshalb sie diese als sinnvoll für die Kritische Theorie erachtet. Dies ist besonders schade, da Religionskritik in derzeitigen Diskussionen oft im Sinne eines antimuslimischen Rassismus vereinnahmt oder pauschal abgelehnt wird.

Im Allgemeinen ist zu sagen, dass in dem Band selten entgendert wird und die Sprache sich in einem binären Verhältnis bewegt. An diesem Punkt zeigt sich gleichzeitig eine der großen inhaltlichen Leerstellen des Sammelbandes, nämlich feministische Argumentationen, die in der Lage sind, über ein binäres Geschlechterverständnis hinauszudenken. Weitere Leerstellen sind das geradezu laute Schweigen zu Rassismus, Ableismus und anderen Diskriminierungsformen. Die Ausnahme bildet Antisemitismus, mit des sich in dem Sammelband ausgiebig beschäftigt wird. Dies ist einerseits eine lobenswerte Ausnahme im Kontext aktueller feministischer Beiträge, andererseits sind die genannten Leerstellen im Vergleich dazu häufig unnötig, da Kritische Theorie noch viel mehr Potenzial bietet, als in diesem Sammelband aufgegriffen wird. Sei es, sich an Marcuses Vorschlag, Sexualität als Schlüssel zur Gesellschaft zu begreifen, zu halten, oder auch die Studien zum autoritären Charakter hinsichtlich Rassismus einzubringen – es gibt noch Vieles, das es zu untersuchen und auszubauen gilt. Dabei sollte nicht vergessen gehen, dass die Kritische Theorie sich selbst die Aufgabe einer umfassenden Gesellschaftstheorie gestellt hat und gerade deswegen bemüht sein sollte, solche Lücken zu schließen. Natürlich ist dies in einem Sammelband allein nicht möglich ist, aber sollte als Anspruch nicht übergangen werden, wenn es dann – wie so oft – doch wieder nur um die Selbstbeweihräucherung sagenhaft kritischer Kritiker_innen geht.

Auch wenn an dieser Stelle der Platz für ausführlichere Besprechungen aller Beiträge fehlt, kann in der Konsequenz dennoch freudig festgestellt werden, dass sich gerade etwas Großes tut in den Dunstkreisen der Kritischen Theorie. Dieses Etwas bietet Impulse für feministische Theorien und zeigt, dass die eingangs erwähnten Vorurteile bei aller Kritik an der Frankfurter Schule zu überdenken sind. Wer bereit ist für verzwickte Theoriearbeit, wird an dem Sammelband viel Freude haben!

Karin Stögner, Alexandra Colligs (Hg.): Kritische Theorie und Feminismus. Suhrkamp-Verlag. 394 Seiten. 24 €