Arbeiter_innenkinder aller Hochschulen, vereinigt euch! – HUch#93

| von Joshua Schultheis |

Dass die Hürden, vor denen Arbeiter_innenkinder im akademischen Umfeld immer wieder stehen, ernst genommen werden und ihnen begegnet wird, ist eine sehr neue Entwicklung. Verschiedene Initiativen der studentischen Selbstverwaltung haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das Thema an den Hochschulen auf den Tisch kommt.1

Bild: HUch-Redaktion

Als der Soziologie-Student Andreas Kemper mit einigen Gleichgesinnten im Jahr 2003 das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (kurz: FikuS) an der Universität Münster gründete, scheute er sich noch, das Wort »Arbeiter_innenkinder« zu benutzen. Das klinge zu sehr nach Klassenkampf, biete zu viel Angriffsfläche für Attacken von rechts und schrecke selbst viele Linke ab. Was hinter dem etwas verklausulierten Namen steht, war aber von Anfang an klar: eine Interessenvertretung für Studierende mit einer sogenannten »niedrigen Bildungsherkunft«, oder schlicht und einfach: für Arbeiter_innenkinder.

Andreas konnte damals das Referat gegen große Widerstände durchsetzen, es gibt es auch heute noch. Bis zur Gründung einer weiteren Interessenvertretung für Arbeiter_innenkinder an einer deutschen Universität sollten aber mehr als 15 Jahre vergehen. Dann ging es jedoch schnell: In den letzten drei Jahren gründeten sich in kurzer Folge an zahlreichen Hochschulen Antiklassimus-Referate, ein Dachverband für den ganzen deutschsprachigen Raum ist im Aufbau. Damit dies möglich werden konnte, musste zum einen eine neue, engagierte Generation von studierenden Arbeiter_innenkindern an den Start treten und zum anderen das Schweigen über Benachteiligung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft durchbrochen werden.

Zu dieser neuen Generation gehört Alex Zapf, die 2019 an ihrer Universität in Marburg zusammen mit einem Kommilitonen ein Arbeiter_innenkinder-Referat gründete – erst das zweite in Deutschland. Ganz von vorne mussten die beiden dabei nicht anfangen, denn vor Ort gab es schon einen Arbeitskreis »Antiklassismus« und das FikuS in Münster hatte vorgemacht, wie eine institutionalisierte Interessenvertretung für Arbeiter_innenkinder aussehen könnte. Dennoch gestaltete sich die Etablierung des Referats schwierig, denn es gab Widerstände in der Studierendenvertretung. Bei der entscheidenden Sitzung des Studierendenparlaments musste sich Alex gegen die typischen Einwände verteidigen: Klassismus gäbe es in unserer Leistungsgesellschaft gar nicht, sie selbst sei doch der beste Beweis, dass die soziale Herkunft den eigenen Bildungsweg nicht determiniere. Am Ende wurde das Arbeiter_innenkinder-Referat mit nur einer Stimme Mehrheit angenommen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass es jederzeit wieder zurückgenommen werden kann. Für Alex war das ein Teilsieg. Gleichzeitig muss sie konstatieren: »Leider sind immer noch nicht alle bereit anzuerkennen, dass Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft in diesem Land existiert.«

Dabei zeigen die Zahlen überdeutlich, dass der Bildungserfolg eines Kindes in Deutschland stark von den finanziellen und kulturellen Ressourcen der Eltern abhängt. In den Statistiken des Deutschen Studierendenwerks zeigt sich dieser Zusammenhang seit vielen Jahrzehnten und spätestens mit der ersten PISA-Studie Anfang der 2000er wird darüber öffentlich diskutiert. Von 100 Arbeiter_innenkindern nehmen aktuell 21 ein Hochschulstudium auf, nur eines erlangt den Doktorgrad. Von 100 Akademiker_innenkindern gehen dagegen 74 studieren und 10 schaffen es bis zur Promotion. Je höher die Qualifikationsstufe, umso weniger Menschen wird man dort finden, deren Eltern nicht selbst schon studiert haben. Die Gründe dafür sind zahlreich: Bei gleichen Noten erhalten Akademiker_innenkinder drei Mal häufiger eine Gymnasialempfehlung als ihre Mitschüler_innen ohne studierte Eltern. Wer keine Aussicht auf ein großes Erbe hat, schreckt eher vor der Aufnahme eines Studiums zurück, weil das oft bedeutet, sich zu verschulden. Und bei der Suche nach einer Wohnung in einer angesagten Studierendenstadt hilft es, wenn Papa Arzt ist und den Mietvertrag unterschreibt.

Der Umstand, dass in einer sogenannten Leistungsgesellschaft wie der unseren manche mit einem goldenen Löffel im Mund geboren werden und andere nicht, liegt offen zutage. Das Problem wurde aber lange nicht beim Namen genannt, was auch darauf zurückzuführen ist, dass dieser Name in Vergessenheit geraten ist. Unter dem Begriff classism wurde schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesellschaftliche Diskriminierung gefasst, die auf der Zugehörigkeit zu einer ökonomischen Klasse beruht. In der Folge hat sich aber in den westlichen Industrienationen eine Erzählung durchgesetzt, nach der es jedem Einzelnen möglich sei, durch eigene Anstrengung und harte Arbeit jedes noch so unvorteilhafte Los wieder auszugleichen. Als sich Andreas Kemper vor knapp 20 Jahren daran machte, Formen der Selbstorganisierung für von Klassismus betroffene Studierende zu finden, war die Zeit dafür noch nicht reif und seine Sache stieß noch auf großes Unverständnis.

In den letzten Jahren hat sich das Bild aber stark gewandelt: Mit der deutschen Übersetzung von Didier Eribons Rückkehr nach Reims2 ins Deutsche wurde auch hierzulande eine Welle von Publikationen losgetreten, in der sich Bildungsaufsteiger_innen mit ihrer proletarischen Herkunft und mit dem Stigma, das damit verbunden ist, auseinandersetzen. Ein Unterstützungsverein für sozial benachteiligte Schüler_innen und Studierende, der sich ohne viel Aufhebens ArbeiterKind.de nennt, wird mit Preisen und medialer Aufmerksamkeit überhäuft. Und nach der Gründung eines Referats für Arbeiter_innenkinder an der Universität in Marburg kamen in kurzer Folge welche in Köln und München hinzu, weitere sind in Berlin, Frankfurt am Main, Hildesheim und weiteren Städten in Planung.

Diese Entwicklung wurde wiederum nicht zuletzt von Andreas Kemper vorbereitet, der nach seinem Studium klassenbedingte Diskriminierung erforschte und damit dazu beitrug, das Konzept des Klassismus wiederzubeleben. Den Grund dafür, dass seine Arbeit schließlich doch noch auf fruchtbaren Boden fiel, sieht Kemper vor allem in großen gesellschaftlichen Umwälzungen: Der Mythos vom sozialen Aufstieg für alle, die sich nur genug anstrengen, habe heute endgültig jede Glaubwürdigkeit verloren. Während die Reichen immer reicher werden, versperrt sich für alle anderen der Zugang zu Wohlstand und gesellschaftlichen Spitzenpositionen zusehends. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit unserer kapitalistischen Gesellschaft lässt sich immer schlechter leugnen und damit steigt das Interesse an einer anderen Art und Weise, diese Realität zu beschreiben.

Diese Veränderung spürt auch Richard Dietrich, der seit 2017 das FikuS in Münster leitet. Während seiner Amtszeit häuften sich die Anfragen von Studierenden, die an ihrer Uni ebenfalls ein Arbeiter_innenkinder-Referat gründen wollten. Richard nahm gerne die Gelegenheit wahr, anderen Betroffenen zu helfen, und sein Wissen darüber zu teilen, wie man den Antrag für ein Referat durch die verschiedenen Uni-Gremien bekommt, wie eine Satzung dafür aussehen sollte, wen man für Vorträge und Workshops über Klassismus gewinnen könnte. Er ist froh, dass an deutschen Universitäten nun einiges in Bewegung kommt. Seine eigenen frühen Studienerfahrungen waren von Befremden und dem Gefühl des eigenen Ungenügens geprägt. Sein Wunsch: »So vielen Betroffenen wie möglich klarmachen, dass die Hürden und die Ablehnung, die sie im Bildungssystem erleben, kein Individualversagen sind, sondern ein strukturelles Problem.«

Auch sein Vorgänger, Andreas Kemper, engagiert sich nach fast 20 Jahren noch für die Belange der Arbeiter_innenkinder an Hochschulen. In diesem Jahr konnte er erleben, wie der unter seiner Beteiligung entstandene deutschlandweite Verein zum Abbau von Bildungsbarrieren seine Arbeit aufnahm. Das Projekt wurde bereits 2010 ins Leben gerufen, schlief damals aber wegen zu geringen Interesses schnell wieder ein. Jetzt wurde es, getragen von den vielen neuen Arbeiter_innenkinder-Referaten, wieder aktiviert. Der Verein fungiert als Dachverband für die unterschiedlichen, jeweils an ihren Unis gewählten Referent_innen, die wiederum auch den Vorstand im Verband stellen. Damit bleibt die demokratische Legitimation gewahrt.

Das erste gemeinsame Projekt, das sich der Verein vorgenommen hat, ist die Herausgabe der Zeitschrift Dishwasher im ganzen deutschsprachigen Raum.3 Bisher war sie nur an der Uni Münster erschienen. Dieses ›Magazin von und für Arbeiter*innenkinder‹ dient der Selbstverständigung der von klassistischer Diskriminierung Betroffenen, denen bei ihrem Eintritt in die akademische Welt oft die Worte fehlen, um die manchmal unsichtbaren Barrieren zu beschreiben, auf die sie stoßen. Im Dishwasher sollen Erfahrungen und theoretisches wie praktisches Rüstzeug geteilt werden, um dieser Sprachlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Noch fehlt allerdings das Geld, um das Magazin in großer Auflage zu drucken. Der Verein hat daher einen Spendenaufruf gestartet. Danach hofft man, dass sich das Magazin durch die erzielten Erlöse selbst tragen kann.

Vorstandsvorsitzende des Vereins ist neben Richard Dietrich aus Münster die Kölner Biologiestudentin Laura Beische. 2019 hatte sie mit ein paar Mitstreiter_innen an ihrer Uni das Autonome Referat für antiklassistisches Empowerment ins Leben gerufen. Der unverblümt kämpferische Name des Referats zeigt, wie viel selbstbewusster heute von Klassismus betroffene Studierende ihr Anliegen vortragen können. Laura glaubt, der Trend zu immer sichtbarer werdendem antiklassistischen Engagement werde auch in Zukunft anhalten. Dem Dachverband, dem sie vorsitzt, soll dabei in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen: Er soll die verschiedenen Initiativen und Gruppen, die sich für mehr Bildungschancen von Arbeiter_innenkindern einsetzen, miteinander vernetzen und ihnen finanziell unter die Arme greifen. »Diese Arbeit ist heute so wichtig wie eh und je«, findet Laura, »die Corona-Pandemie hat erneut eindrücklich gezeigt, wie sehr Klassenunterschiede nach wie vor unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem prägen«.

Spenden:

Verein zum Abbau von Bildungsbarrieren e.V.

Sparkasse Münsterland Ost

DE 93 400501500000511709

WELADED1MST

… oder mit Paypal:

paypal.me/vereinzabiba

_________________________________________________

1 Eine Version dieses Textes erschien zuerst in der Juli-Ausgabe der E&W (Magazin der GEW).

2 Didier Eribon : Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp, 2016.

3 Online unter: www.dishwasher-magazin.de