Wie geht es weiter nach dem gewonnenen Volksentscheid? – HUch#93

| von Patricia Machmutoff |

Die Kampagne rund um den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen hat einen historischen Sieg errungen. Doch wie kam es zu diesem Erfolg und wie geht es nun weiter?

Bild: HUch-Redaktion

Knapp zwei Monate nach dem historischen Volksentscheid haben die meisten Berliner_innen realisiert, dass die Verteilung von Wohlstand und Verwaltung von Eigentum im kapitalistischen System nicht in Stein gemeißelt sind. Rückblickend wird klar, dass die Bewegung bereits vor dem überragenden Wahlergebnis von 59,1% ein Erfolg war.

Dazu muss man gar nicht so weit in die Geschichte der Kampagne zurückblicken, die immerhin schon seit 4 Jahren die Berliner Stadtpolitik aufmischt. Erst im Juni 2021 wurden der Landeswahlleitung 350.000 Unterschriften übergeben – welche die Kampagne zum bis dato erfolgreichsten Volksbegehren der Berliner Geschichte machen. In den sechs Monaten der Unterschriftensammlung der zweiten Phase zweifelten viele daran, dass die benötigten 175.000 Unterschriften (die 7% der wahlberechtigten Bevölkerung entsprechen) erreicht werden würden. Dass die doppelte Anzahl der benötigten Unterschriften gesammelt wurde, spricht nicht nur für die Bewegung, sondern zeigt auch Missstände im Hinblick auf Partizipation auf.

Von den 350.000 Unterschriften war etwa ein Drittel ungültig – das bedeutet, dass eine nicht wahlberechtigte Person unterschrieben hat – meist Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Die Kampagne hat Wert daraufgelegt, dieses Thema in den öffentlichen Fokus zu rücken. So konnte darauf aufmerksam gemacht werden, wie weit die Illusion der bunten Stadt, in der alle mitmischen, von der Realität entfernt ist. Die traurige Wahrheit ist, dass ein Pass darüber entscheidet, ob eine Person politisches Mitspracherecht hat – nicht etwa, ob sie hier lebt, ob sie Kinder hier großgezogen hat, Steuern zahlt oder sich in ihrem Kiez engagiert. Dass die Kampagne dazu beitragen konnte, dieses Problem auf die öffentliche Agenda zu bringen, ist ebenfalls als Erfolg zu werten.

Letztlich besteht die größte Errungenschaft der Initiative aber darin, dass sie so viele unterschiedliche Menschen in allen Bezirken Berlins mobilisiert und das Thema Wohnen in den öffentlichen Diskurs gerückt hat. Vor 5 Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass sogar rechtskonservative Medien wie die WELT die Begriffe »Enteignung« oder »Vergesellschaftung« diskutieren.

Beim Unterschriftensammeln oder im Wahlkampf sind Aktive mit unzähligen Berliner_innen ins Gespräch gekommen und haben damit etwas geschafft, woran viele linke Bewegungen scheitern: Der direkte Kontakt und die gemeinsame Zusammenarbeit mit großen Teilen der Stadtgesellschaft. Die Kampagne hat vielen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie nicht allein sind, dass sie alle unter dem Mietenwahnsinn leiden, aber auch, dass sie sich gemeinsam organisieren und wehren können. Allein das ist schon so viel wert, weil daraus grenzenlose Kraft für weitere Kämpfe erwächst.

Die Vergesellschaftung von Immobilien- oder Energiekonzernen wird zudem inzwischen auch außerhalb von Berlin – in Köln, in Hamburg, in Spanien oder in der Slowakei diskutiert. Die Kampagne wirkt über sich hinaus – seit dem Tag, an dem die Berliner_innen an der Wahlurne über den Volksentscheid abstimmen durften, weht ein anderer Wind. Denn einen Diskurs um Eigentumsstrukturen und Gemeinwirtschaft hat es seit dem Ende des zweiten Weltkriegs in der Geschichte der BRD in diesem Umfang noch nie gegeben und dieser wäre ohne den Volksentscheid nicht denkbar gewesen.

Deutsche Wohnen & Co. enteignen – Revolutionäre Realpolitik?

Vor diesem Hintergrund können die Errungenschaften der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen als revolutionäre Realpolitik bezeichnet werden. Die Initiative bedient sich einem realpolitischen Mittel, dem Volksbegehren, und fordert etwas Revolutionäres wie die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum –etwas, das unsere Lebensbedingungen und Verteilungslogik maßgeblich transformiert. Der Kerngedanke dahinter ist, dass »die Revolution« nicht als plötzlicher Bruch, als gewaltsamer Umsturz verstanden werden muss, da dies ein ewiges Warten auf den ›richtigen‹ Moment mit sich bringen kann. Durch revolutionäre Realpolitik hingegen gelingt es, den falschen Gegensatz von Reform und Revolution aufzuheben, an dem sich linke Bewegungen zerstreiten. Rosa Luxemburg – Revolutionärin, Kämpferin für Arbeiter_innenrechte und Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands – prägte die Idee der revolutionären Realpolitik. Damit meint sie in Kontrast zu dem ›einen revolutionären Moment‹ einen Prozess, der kontinuierlich abläuft, an reale Bedingungen anknüpft und transformativ interveniert1. So können Veränderungen über die Grenzen des Reformismus hinaus errungen werden.

Reformismus, wie ihn die Sozialdemokratie anstrebt, steht für marginale Verbesserungen wie bessere Löhne oder minimal bessere Arbeitsbedingungen, welche die Menschen für den Moment ruhigstellen, aber nichts an den ausbeuterischen Strukturen ändern. Diese vermeintlichen Erfolge sind nichts als faule Kompromisse, die sich der Logik des kapitalistischen Systems unterwerfen. Stattdessen muss das Ziel sein, die Wurzel des Problems anzugehen. Das bedeutet, kapitalistische Machtstrukturen und Kräfteverhältnisse zu hinterfragen und anzugreifen. Die Kampagne hat insofern den ersten Grundstein dazu gelegt, als dass sie Fragen stellt wie: Darf mit allen Mitteln Profit gemacht werden? Wer sollte über Wohnraum entscheiden? Ist Rendite immer wichtiger als Kiezkultur? Dürfen nur Besserverdiener_innen innerhalb des Rings wohnen? Damit gelingt es, einzelne Kämpfe in einen Zusammenhang emanzipatorischer Forderungen zu stellen. Dass dabei so viele Menschen mobilisiert werden und so viele Stimmen gewonnen werden konnten, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Wohnen die soziale Frage unserer Zeit ist, in der sich die Ungleichverteilung von Wohlstand am plastischsten abzeichnet.

Kampfansage ans Kapital

Zwar schwelgen wir noch immer in Euphorie über das mehr als eindeutige Wahlergebnis, doch der Mietenwahnsinn ist noch lange nicht überwunden. Seit dem Volksentscheid wurden weitere linke Freiräume zugunsten von Investor_innen und Spekulant_innen geräumt. Wohnraum steht weiterhin leer, wird luxussaniert oder in Eigentum umgewandelt. Das Kapital agiert weiter unbeeindruckt im Sinne der Profitmaximierung. Dennoch lassen sich häufende Monopolisierungsbestrebungen der Immobilienkonzerne beobachten.2 Obwohl die Monopolisierung eine Gesetzmäßigkeit im Kapitalismus darstellt, ist die Geschwindigkeit und der Zeitpunkt der Übernahmen auffällig. Vor diesem Kontext sei den Konzernen gesagt: Die Akkumulation von Marktmacht wird euch vor der Vergesellschaftung nicht bewahren. Berlin hat sich für eine Kampfansage an Aktionär_innen und Spekulant_innen entschieden – als Versprechen an Berlins Mieter_innen.

Damit das gelingt, muss Druck auf die kommende Regierung ausgeübt werden, insbesondere auf Sozialdemokrat_innen und Grüne. Deren Führung würde das Problem der Mietenkrise allzu gern mit den Konzernen gemeinsam lösen. Doch das kann nicht funktionieren. Vonovia und Co. haben oft genug gezeigt, dass ihnen jedes Mittel recht ist, um die Rendite zu steigern: Mieterhöhungen mitten in einer Krise, Schikanieren von Mieter_innen und Zwangsräumungen. Diese Konzerne werden immer Mittel und Wege finden, um Regulierungen zu umgehen, wie es auch heute vielfach geschieht. Die Illusion von Konzernen, die im Sinne des Gemeinwohls agieren, hat sich ausgeträumt. Es bringt nichts, mit ihnen am Tisch zu sitzen und zu verhandeln – die einzig legitime und demokratische Lösung ist es, ihnen die Marktmacht zu entziehen und alle Bereiche, die zur Grundversorgung gehören, gemeinwirtschaftlich zu verwalten.

Teile der Grünen und Sozialdemokrat_innen versuchen aktiv, die Koalitionsverträge mit Floskeln zu füllen, bis das Thema vom Tisch fällt. Dabei verprellen sie große Teile ihrer Basis, die sich für die Vergesellschaftung aussprechen: 61,1% der SPD und 64,4% der Grünen laut dieser Civey Umfrage3.

Ein Volksentscheid ist keine Doodle Umfrage

Kritiker_innen führen das Argument an, der Volksentscheid werde nicht umgesetzt, da er nicht rechtlich bindend sei. Zwar wurde am 26.09.2021 kein konkretes Gesetz abgestimmt, sondern ein Beschlussvolksentscheid. Dieser ist zwar nicht rechtlich einklagbar, aber politisch in jedem Fall verbindlich, insbesondere bei einem so deutlichen Votum. Ein Volksentscheid ist schließlich keine Doodle Umfrage. Wie könnte eine Regierung sich als Vertreterin des Volkes begreifen, wenn sie den Willen von mehr als einer Million Wähler_innen ignoriert? Es wäre ein politischer Skandal und eine Ohrfeige für die Demokratie, wenn das Votum übergangen oder durch Tricks aufgeweicht würde.

Für die neue Regierung darf es also nicht um die Frage gehen, ob eine Vergesellschaftung stattfindet – denn das wurde bereits abgestimmt und beschlossen – sondern es geht um das wie. Deshalb ist das Ziel nun, dass die Umsetzung des Volksentscheids im Koalitionsvertrag festgeschrieben und schnellstmöglich in Angriff genommen wird. Konkret bedeutet das die Erarbeitung eines Vergesellschaftungsgesetzes unter Beteiligung der Kampagne und mit einem konkreten Zeitplan. Inhaltliche Grundlage dieses Gesetzes kann nur der von einer Million Berliner_innen abgestimmte Beschluss sowie das von der Kampagne erarbeitete Vergesellschaftungsgesetz sein. Dabei ist vor allem die Rolle der Linkspartei kritisch: als einzige Partei, die voll hinter der Umsetzung des Volksentscheids steht, ist ihre Regierungsbeteiligung unabdingbar. Dabei darf sie sich nicht dazu drängen lassen, ihre Forderungen unter dem Koalitionszwang aufzuweichen. Gleichzeitig könnte eine zu harte Linie dazu führen, dass es stattdessen zu einer Ampelkoalition kommt. Das kann wirklich niemand wollen und es wäre vermutlich auch das Aus für die Vergesellschaftung. Dennoch ist auch unter einer Rot-Grün-Roten Koalition eine schnelle Umsetzung des Volksentscheids keineswegs gewährleistet – denn die einzige Partei, die hinter der Vergesellschaftung steht ist auch die kleinste Verhandlungspartnerin der drei Koalitionsparteien.

Das bedeutet nun für die Bewegung: im Gespräch mit Politiker_innen bleiben, Präsenz zeigen und Druck ausüben – wie es gerade geschieht – bei den Koalitionsverhandlungen oder auf der Straße. Das politische Momentum ist da und muss genutzt werden. Im Zweifel taucht die Kampagne bei jedem öffentlichen Termin von Spitzenpolitiker_innen auf und erinnert sie an ihre Bringschuld im Sinne ihres demokratischen Verständnisses. Denn hunderttausende Berliner_innen zahlen immer noch jeden Monat zu viel Miete oder werden aus ihren Kiezen verdrängt. Darum muss die Kampagne weiterhin als Brücke zwischen den organisierten und nicht organisierten Mieter_innen und der Politik fungieren. Auch deshalb ist es notwendig, weiterhin in den Kiezen präsent zu bleiben und die lila-gelbe Welle, auf der Berlin gerade reitet, nicht verebben zu lassen. Das gilt insbesondere im Zusammenhang mit Rückschlägen wie dem faktischen Kippen des kommunalen Vorkaufsrechts durch das Bundesverwaltungsgericht, womit einer der letzten Schutzmechanismen für Mieter_innen gegen Verdrängung verloren gegangen ist. Dies darf die mietenpolitische Bewegung nicht ohnmächtig machen. Im Gegenteil: Es sollte sie darin bestärken, dass die Vergesellschaftung noch dringender notwendig ist als zuvor. Damit wird die Kanalisierung von Enttäuschung und Wut hin zu produktiver Polit-Arbeit auch zur Aufgabe der Kampagne. Denn die Frustration und das Gefühl, als laute Bewegung nicht von der Politik gehört zu werden bergen die Gefahr, Demotivation gegenüber kommenden Kämpfen zu erzeugen. Die Berliner_innen, die auf den Volksentscheid gesetzt haben, mitgekämpft und ihre Stimme abgegeben haben, dürfen jetzt nicht enttäuscht werden.

In dubio pro Enteignung

Skeptiker_innen werfen dem Volksbegehren vor, dass es auf rechtlich wackeligen Füßen stehe und führen dafür das Scheitern des Mietendeckels an. Auch die Vorwände der Sondierer_innen, es bräuchte eine Expert_innenkommission, welche über ein Jahr lediglich die rechtliche Machbarkeit prüft, ist Quatsch: Es gibt mehrere (genau gesagt: sieben) unabhängige rechtliche Gutachten, darunter vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, dem Abgeordnetenhaus Berlin und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, die unsere Machbarkeit bestätigen. Die einzigen drei Gutachten, die zu anderen Schlüssen kommen, wurden kurioserweise von der Immobilienlobby in Auftrag gegeben.

Tatsächlich hat der SPD-geführte Innensenat bereits vor 15 Monaten die Zulässigkeit des Volksbegehrens geprüft und ist zu einem positiven Ergebnis gekommen. Sonst wäre die zweite Phase der Unterschriftensammlung gar nicht genehmigt worden.

Ein Kippen des Volksentscheides aufgrund von Bund/Länder-Kompetenzfragen kann ausgeschlossen werden, da sich auf den Artikel 15 des Grundgesetzes berufen wird. Ironischerweise war es genau die SPD, die vor knapp 70 Jahren den entsprechenden Artikel im Grundgesetz verankert hat, der ihr jetzt auf die Füße fällt.
Das bedeutet: Eine mögliche Kommission hat zu prüfen, wie die Vergesellschaftung umgesetzt werden kann und nicht, ob sie möglich ist.

Unser Zuhause ist kein Spekulationsobjekt

Die Aktiven in der Kampagne haben nach wie vor eine wichtige Aufgabe: Sie müssen im Interesse der 85% der Berliner Bevölkerung, die zur Miete wohnen, Druck ausüben und mietenpolitische Fragen weiter beeinflussen. Denn auch unabhängig von der Vergesellschaftung existieren enorme Missstände auf dem Wohnungsmarkt, wie die Diskriminierung von (post)migrantischen Personen oder Zwangsräumungen.

Die Bewegung muss daher jetzt klar und deutlich postulieren: Wir sind hier und wir bleiben auch hier, ihr kommt nicht um uns herum, es gibt keine Alternative zur Umsetzung des Volksentscheids. Es gilt während der gesamten kommenden Phase, Druck auf Politiker_innen auszuüben, die öffentliche Debatte über Miete und Wohnen weiterzuführen und Mieter_innen weiter zu organisieren. Zunächst begleiten wir die Koalitionsgespräche und die Regierungsbildung. Später sind Dialogformate mit verschiedenen Akteur_innen aus Stadtgesellschaft und Politik geplant, um die Umsetzung des Volksentscheids während der Gesetzesausarbeitung im Sinne der Berliner_innen zu gewährleisten. Danach muss der Senat Rechenschaft leisten und Ergebnisse präsentieren. Sollte die kommende Regierung den Volksentscheid blockieren, besteht die Möglichkeit, einen zweiten, rechtlich bindenden Volksentscheid durchzuführen, bei dem das Vergesellschaftungsgesetz zur Abstimmung steht.

Dass die kommenden Monate keine einfache Zeit werden, ist allen bewusst. Allerdings gibt es einen Gedanken, der Kraft spendet: Egal was kommt, egal welche Steine uns die Immobilienlobby oder der Senat in den Weg legen: Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat mehr als eine Million Wähler_innenstimmen und mindestens 59,1% der Berliner_innen hinter sich. Ein beträchtlicher Teil der Stadtgesellschaft ist nicht nur politisiert, sondern auch organisiert und in Aufbruchsstimmung.

Wir – das sind die Arbeiter_innen, die Mieter_innen, die Berliner_innen – haben entschieden: Es gibt kein Recht auf Profit mit Wohnraum. Nach Jahrzehnten, in denen Profitinteressen darüber bestimmt haben, was mit Berlin passiert, sind wir endlich ein Stück näher an einer demokratischeren Stadt. Nicht Spekulant_innen in Steuerparadiesen sollen darüber entscheiden, wie wir hier zusammenleben, sondern alle Menschen, die Berlin zu dem Ort machen, der er ist: Unser Zuhause.

_______________________________________

1 Vgl. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution, 1899

2 Aktuelles Beispiel: Vonovia kauft Deutsche Wohnen auf und steigt mit 13% bei der Adler Group ein

3 Deutsche Wohnen & Co enteignen: Aktuelle Umfrage bestätigt den Trend, 21.09.2021, online unter: www.dwenteignen.de