Die Hölle, in der wir leben – HUch#93

| von Tea Medar Collot |

Die Erfolgsserie Squid Game will eine Allegorie auf den modernen Kapitalismus sein. Doch das gelingt ihr nur bedingt.

Bild: HUch-Redaktion

Die Serie Squid Game ist die neue Netflix-Sensation. In den ersten vier Wochen nach Serienstart hat sie sich mit 111 Millionen Klicks den Platz als meistgestreamte Serie des Milliardenkonzerns gesichert. Dabei hat sich das südkoreanische Horror-Drama zu einem noch nie dagewesenen Internetphänomen entwickelt – auf sämtlichen Social-Media-Plattformen gab es wochenlang praktisch kein Entkommen vor ihr.

Die Handlung ist simpel: 456 Teilnehmer_innen, die aufgrund prekärer Lebenssituationen und massiver Verschuldung für ihre Teilnahme an dem geheimen Turnier ausgewählt wurden, müssen in sechs Spielen gegeneinander antreten. Dabei hat prinzipiell jede_r die Möglichkeit, 45,6 Milliarden Won (etwa 33 Millionen Euro) Preisgeld zu gewinnen. Was die Teilnehmer_innen jedoch erst im Verlauf der Spiele mitbekommen: Wer eine Spielrunde verliert oder sich disqualifiziert, wird auf der Stelle hingerichtet.

Nach eigener Aussage wollte der Regisseur Hwang Dong-hyuk »eine Allegorie auf den modernen Kapitalismus schreiben«1. Die Bezüge sind, wenn auch stark bemüht, dennoch sehr offensichtlich: Wir begleiten unseren Protagonisten Seong Gi-Hun und erfahren im weiteren Verlauf der Serie, dass dieser vor einigen Jahren als Fabrikarbeiter bei einem Automobilhersteller angestellt war. In einem kurzen Dialog wird thematisiert, wie zahllose Arbeiter_innen, darunter auch Gi-Hun, mit Streik und der Besetzung eines Fabrikgebäudes auf eine Entlassungswelle reagierten. Die Serie bezieht sich hier auf die realen Streiks, welche sich 2009 beim südkoreanischen Automobilhersteller SsangYong ereigneten. Als Reaktion auf ihre Entlassungen besetzten mehrere tausend entlassene Arbeiter_innen über Monate ein SsangYong-Fabrikgebäude und forderten ihre Stellen zurück.

Stark bemüht sind diese Bezüge, weil die Serie auf eine sehr mechanische Art und Weise nicht müde wird zu betonen, wie kritisch sie doch sei. Immer wieder werden anekdotische Verweise auf die Klassenzugehörigkeit der Teilnehmer_innen und ihre finanziellen Probleme eingestreut. Hieran schließt sich allerdings ein Problem an, dass bei der Rezeption von Squid Game, gerade seitens linker Stimmen, häufig aufgetreten ist: In heilloser Begeisterung wird eine Netflix-Serie schnell für all das gelobt, was man so gerne in ihr sehen möchte – oder was man, sich selbst als kapitalismuskritisch verstehende Linke, gerne in sie hineininterpretiert.

Nun stimmt es zwar, dass die Anspielungen auf die südkoreanische Streikgeschichte hier bewusst gewählt wurden, um uns die tragischen Folgen des Kapitalismus durch die Teilnehmenden und ihre Schicksale nahezubringen. Gleichzeitig mischt sich aber diese halbgar umgesetzte Ambition mit ebenjenen plumpen, effekthascherischen Mitteln, die wir von einem profitorientierten Streamingunternehmen wie Netflix schon seit Jahren kennen. Denn es ist kein Zufall, dass diese Serie so erfolgreich geworden ist. Und ihre pseudo-kritische Note, die uns Zuschauer_innen eine besonders tiefgründige Message vorgaukelt, verhilft ihr genau dorthin.

Zwei zutreffende Beobachtungen macht Squid Game tatsächlich: In der zweiten Episode kommt es zu einer Szene, in der die Spieler_innen vor die Wahl gestellt werden, ob sie denn weiter an den tödlichen Spielen teilnehmen möchten. Die Spielregeln besagen, dass das Turnier jederzeit abgebrochen werden kann, wenn eine Mehrheit der Teilnehmer_innen sich in einer Abstimmung dagegen entscheidet, weiter zu partizipieren. Als diese Situation dann eintritt, kehren alle Teilnehmenden in ihr altes, prekäres Leben zurück – nur um sich, von ihrer eigenen Perspektivlosigkeit getrieben, dann doch wieder für die Teilnahme am blutrünstigen Spiel zu entscheiden und sich damit ihrer allerletzten, traurigen Hoffnung hinzugeben, als Gewinner_in vielleicht die 46 Milliarden Won mit nach Hause zu nehmen.

Im weiteren Verlauf der Serie wird zudem immer wieder betont, dass alle Teilnehmenden die gleichen Chancen auf den großen Hauptgewinn besäßen und im Wettbewerb von Grund auf gleich und ebenbürtig behandelt würden, um absolute Fairness zu garantieren – eine Fairness, die so natürlich nie gegeben ist. Ob nun gewollt oder nicht, in dieser Darstellung entzaubert Squid Game zwei große liberale Lügen: sowohl die Illusion von Freiheit und „freier Wahl“ im Kapitalismus als auch eine Gleichheitsideologie, welche ökonomische und materielle Unterschiede der sozialen Herkunft verschleiert, um ein imaginäres Prinzip von Fairness und Wettbewerbsgleichheit hochzuhalten. Leider sind diese wertvollen Observationen der Serie zugleich diejenigen, die am unbeabsichtigten wirken und zwischen Effekthascherei und affektiv-rührseligem Kitsch beinahe komplett untergehen.

Die gesamte Aufmachung von Squid Game wirkt, als hätte man einen Algorithmus mit der für das Actiongenre üblich überladenen, grell-bunt-brutalen Netflix-Ästhetik (siehe z.B. die Erfolgsserie Haus des Geldes), vorhersehbaren Spielverläufen und billigen Schockmomenten gefüttert, um am Ende ein möglichst erfolgversprechendes Endprodukt zu generieren. Dabei bleiben die bereits dargelegten Ansätze von Kritik nur noch unter der Lupe erkennbar. Hier reichen sich die kulturindustriell ausgefeilte Form der Serie und ihr verkürzter Inhalt liebevoll die Hand: Die kleine Prise mehrheitsfähiger Gesellschaftskritik leistet nicht sehr viel mehr als etwas willkommene Würze, um auf dem hart umkämpften Streamingmarkt hervorzustechen. Denn es ist mehr als fragwürdig, ob die zahllosen zerschossenen Körper und Blutlachen zwingend notwendig gewesen wären, um uns die grausame Natur des Kapitalismus vor Augen zu führen. Alles, was diese brutalen Bilder von ihrem Publikum wollen, ist, uns möglichst lange vor den Bildschirm zu fesseln und uns gerade verstört genug zurückzulassen, um direkt die nächste Folge zu streamen.

Moralinsauer stößt vor allem die letzte Episode auf: Nachdem Gi-Hun das Turnier gewonnen hat, wird die Handlung nämlich von Oh Il-nam – dem eigentlichen Orchestrator der Spiele – in ihren eigentlichen Rahmen eingebettet, der sowohl Intention als auch Konklusion der Spiele enthüllen soll. Dies geschieht in Form einer aufgeblasenen Moralpredigt, die sämtliche mehr oder minder kritischen Bemühungen der Serie bis hierhin zunichtemacht. In einem letzten Gespräch fragt Oh Il-nam Gi-Hun: »Glaubst du immer noch an die Menschen? Selbst nach dem, was du erlebt hast?« Dabei bricht die Serie ihre gesamte Systemkritik auf eine einfache Glaubensformel herunter und lässt das Publikum letztendlich bei der Annahme stehen, dass Menschen nun einmal grundlegend schlecht seien. Das ist weder eine Analyse von, noch eine Kritik an der Hölle, in der wir leben, sondern lediglich stumpfe, bürgerliche Empörung. Da verwundert es wenig, dass Regisseur Hwang Dong-hyuk von seiner Serie selbst behauptet, sie handele vom »extremen Wettbewerb des Lebens«2 – und somit genauso, ob bewusst oder nicht, das erniedrigende Leben im Kapitalismus als Normalzustand naturalisiert.

Dass es auch anders geht, zeigt uns z.B. der Spielfilm Parasite (2019): Während dessen Regisseur Bong Joon-ho es schafft, uns die zermürbende Lebensrealität südkoreanischer Arbeiter_innen und den vorherrschenden Klassenantagonismus auf Leinwand zu spiegeln, bleibt Hwang Dong-hyuk bei nicht sehr viel mehr als blutroten Signalfarben, grausamen Kinderspielen und plumpen narrativen Mitteln stecken. Squid Game übertreibt, übersteuert und verzerrt, um seine Zuschauer_innen durch den Affekt zum Binge-Watching zu bewegen. Entgegen vieler Stimmen – und auch entgegen der Intention des Regisseurs selbst – findet sich in der Serie kein kapitalismuskritischer Kern, sondern nur eine oberflächliche, ausgehöhlte Schale von Kritik: eine Fassade, die auf das altbewährte Netflix-Erfolgsgerüst draufgeschraubt wurde. Nicht umsonst bewerben jetzt auch die Sparkasse Köln-Bonn und Internet-Finanzratgeber auf Social-Media-Plattformen ihre Banken und Unternehmen in Memes mit den eingängigen roten Anzügen. Squid Game ist keine Allegorie auf den Kapitalismus, sondern in letzter Konsequenz vor allem eine sehr gut gelungene Marketing-Strategie. Wahrscheinlich die beste, die der Milliardenkonzern bis jetzt gefahren ist.

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1 Hwang Dong-hyuk, zitiert nach David Pfeifer: »Sechs Zähne verloren und ein Meisterwerk geschaffen«, in: Süddeutsche Zeitung, 12.10.2021, online unter: www.sueddeutsche.de.

2 Ebd.