Über (studentische) Archive – HUch#92

| von Fabian Bennewitz |

Die Geschichtslosigkeit der Linken ist so notorisch wie vielbeklagt.“1

Eine kritische Geschichtsschreibung der eigenen Hochschule sollte mehr als eine nette Nebenbeschäftigung sein, trägt sie doch zum Selbstverständnis heutiger studentischer Politik bei: Über die Möglichkeiten, studentische und widerständige Hochschulgeschichte zu erhalten und nutzbar zu machen.

Bild: Loup Deflandre

Lange Regale voller verstaubter Aktenordner. Ein dunkles Kellergewölbe ohne Tageslicht. Eine einzelne Nutzerin, die an einem Tisch in stapelweise aufgeschlagene Akten vertieft ist und müde nach Hinweisen und Belegen sucht. Solche und andere Assoziationen zu Archiven lassen bei den allermeisten keine große Begeisterung, Hoffnung auf eine bessere Welt oder gar Aufbruchsgefühle aufkommen. Kurzum: viele finden das Archiv einfach langweilig. Doch Archiv ist nicht gleich Archiv. Diese spezielle Form von Wissenssammlung ist mehr als nur die Futterstelle für die nächste geschichtswissenschaftliche Arbeit. Ich möchte in diesem Text einen Blick auf die Möglichkeiten des Archivs werfen, und zwar am Beispiel der Dokumentation studentischer und widerständiger Hochschulgeschichte, sowie die Beziehung zwischen Archiv und politischer Arbeit untersuchen.

Zur Funktion des Archivs

Ganz allgemein gefasst ist ein Archiv eine Institution, die Archivgut aufbewahrt, benutzbar macht und erhält. In den allermeisten Fällen sind das Schriftstücke in Form von Akten, Protokollen, losen Dokumenten oder handschriftlichen Notizen. Es werden aber auch Filme, Fotos oder einzelne Gegenstände aufbewahrt, die meist durch ihre_n Benutzer_in einen besonderen historischen Wert erfahren haben.2 Die größten und bekanntesten Archive in Deutschland sind in staatlicher Hand und befassen sich inhaltlich mit der Arbeit von einzelnen Behörden und Staatsorganen, wie etwa das Bundesarchiv, das die Unterlagen von Verfassungsorganen, Bundesbehörden und Bundesgerichten archiviert. Im Kontrast dazu stehen die Gattungen der sogenannten Bewegungsarchive und der freien Archive. Letztere sind in erster Linie solche, die unabhängig von den klassischen staatlichen Archiven agieren und deswegen frei von einem engeren institutionellen Charakter sind. Die Archive der sozialen Bewegungen sind ebenfalls in den allermeisten Fällen von staatlichen Strukturen unabhängig und bewahren vor allem (Schrift-)Stücke aus sozialen und linken Bewegungen auf.

Interessanterweise tut sich dabei allerdings eine gewisse Widersprüchlichkeit zwischen dem Charakter sozialer Bewegungen und jenem von Archiven auf. Erstere sind in der Regel durch eine gewisse Schnelllebigkeit gekennzeichnet, wodurch einige gerade noch heiß debattierte Themen nach kurzer Zeit schon wieder vergessen sind. In Zeiten, in denen sehr aktiv Demonstrationen und Proteste organisiert werden, Gruppen sich bilden oder weiterentwickeln, Bündnisse geschlossen oder Streiks vorbereitet werden, scheint das Sammeln von Schriftzeugnissen (in analoger oder digitaler Form) nebensächlich – insbesondere über den eigenen Dunstkreis hinaus. Ein Archiv ist hingegen ein Ort, der versucht, sich der Vergänglichkeit durch Dokumentation zu widersetzen und gleichzeitig ganz aktiv Geschichte formt und herausbildet. So ermöglicht er es, die Gegenwart in den Vergleich und in die Beziehung zur Vergangenheit zu setzen. Hier zeigt sich der Widerspruch besonders deutlich, denn schnelllebigen sozialen Bewegungen fehlt oft genau diese Vergangenheitsvermittlung, die eigentlich für die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses essenziell wäre. Daher hängt die generationsübergreifende Übermittlung des Bewegungswissens oft von einzelnen Individuen ab und geschieht eher zufällig.3

Um Wissensübermittlung zwischen verschiedenen Bewegungsgenerationen möglich zu machen, erfüllen daher freie Archive und Archive sozialer Bewegungen eine wichtige Funktion. Sie ermöglichen den Zugang zu Praktiken, Ideen und Alternativen, die keinen Eingang in die gängige Geschichte gefunden haben. Sie sind ein Baustein oppositioneller und linker Geschichtsschreibung und dadurch genuin politisch, da sie Geschichten bewahren, die Alternativen zum Bestehenden aufzeigen und an den Rand verdrängtes in den Mittelpunkt rücken. Feministische Archive, wie etwa das Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum (FFBIZ) ermöglichen so zum Beispiel eine detaillierte und intensive Auseinandersetzung mit der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Deutschland und vor allem den damit verbundenen politischen Kämpfen4.

Freie Archive an den Hochschulen?

Auch an Hochschulen bräuchte es diese Vermittlung von vergangenem Widerstand und einen Zugang zu den Zeugnissen früherer Kämpfe von Studierenden. Es fängt damit an, dass es inspirierend sein kann, zu erfahren, dass Studierende schon immer versucht haben, sich aus ihrer institutionellen Entmündigung zu befreien, die diese Gesellschaft und damit auch die Hochschulen bedeuten. Dazu gehört es auch, den Mythos von 1968 zu entzaubern, da er den Fixpunkt darstellt, an dem immer wieder neue Studierendengenerationen und ihre Versuche politischer Aktion gemessen werden. Die historische Konstellation, aus der sich die sogenannte »Studentenbewegung« entwickelt hat, war eine sehr spezielle und ist damit schwierig mit den heutigen Verhältnissen in der BRD zu vergleichen. Stattdessen kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erkennbar machen, dass es auch nach ‘68 noch viele eigenständige studentischen Bewegungen und Proteste gab, die ihren Weg nicht in das bundesdeutsche Selbstverständnis gefunden haben. Beispielsweise findet sich auch in der offiziellen Geschichtsschreibung unserer lokalen Berliner Hochschulen wenig darüber, wie viele interne Konflikte über die Jahrzehnte ausgetragen wurden, bevor sich das Konzept »exzellenter« Universitäten durchsetzte, mit dem sich heute beispielsweise auch die drei großen Berliner Universitäten nach außen schmücken. Gerade im Zuge des in den Nullerjahren entstandenen Hochschulmarketings gibt es innerhalb der Universität heute noch weniger Interesse an Brüchen, Widerständen und Widersprüchlichem. An deren Stelle wird eine glattgebügelte Version der eigenen Hochschulgeschichte präsentiert. Ein studentisches, kritisches Archiv hätte also die Aufgabe, Raum für diese Widersprüchlichkeiten zu bieten und müsste versuchen, sie dem Vergessen zu entreißen. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vorgänger_innen ermöglicht es linken Studierenden zudem, kritisch zu prüfen, welche Wege vielleicht nicht mehr beschritten werden sollten, oder welche sinnvollen Ansätze zu Unrecht vergessen wurden.

Aufbau eines studentischen Archivs

Anstoß für diese Reflexion zu linker Geschichtsschreibung an Hochschulen ist der Versuch von einem Kommilitonen und mir, an der Freien Universität Berlin (FU) ein studentisches Archiv aufzubauen, angesiedelt an den dortigen Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA)5. Wie könnte also so eine Wissensansammlung aussehen und wie könnte sie umgesetzt werden – auch außerhalb der FU?

Im Kontext von sozialen Bewegungen ist der Begriff des Archivs nicht so scharf von dem der Bibliothek abgetrennt, wie es bei klassischen Archiven der Fall ist. Stattdessen beherbergen die meisten Bewegungsarchive neben der Sammlung von Originalmaterialien auch eine Fachbibliothek mit Publikationen und Büchern über die Themen des jeweiligen Archivschwerpunkts. Diese Mischform ergibt Sinn, da die Grenze zwischen Materialien, die aus einer Bewegung entstehen und Zeitschriften oder Büchern über und aus einer Bewegung nicht klar zu ziehen ist. Selbstreflexion und -kritik, vermittelt etwa über Artikel in etablierten (linken) Publikationen, ist üblich und trägt ebenso zur Charakterisierung einer Bewegung bei, wie Flyer, die auf Demonstrationen verteilt werden und Protokolle, die interne Diskussionsprozesse belegen. Ein studentisches Archiv würde demnach sowohl Spezialliteratur über Hochschulen, Studierendenbewegungen oder Bildungspolitik, als auch Flyer von Bündnissen wie Students For Future oder der Hochschulgruppe der »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«-Kampagne sammeln.

Dabei ist es naheliegend, aber nicht zwingend, dass das Archiv in irgendeiner Form an die bestehenden Institutionen angebunden ist, die der Studierendenschaft zur Verfügung stehen. Über das Studierendenparlament (StuPa) oder den AStA kommt man allerdings leichter an Grundlegendes wie Räumlichkeiten und ein bisschen Startfinanzierung, um Ausstattung anzuschaffen. Damit ergibt sich auch schon ein Grundstock an Archivmaterial, wie Protokolle oder Aktenordner mit Notizen und Publikationen, die von der verfassten Studierendenschaft herausgegeben wurden.

Dies bedeutet aber, dass ein AStA-/Stupa-Archiv nicht im klassischen Sinne auch gleich ein freies Archiv ist, da es eine Mischung aus Institutions- und Bewegungsarchiv darstellt. So säße ein studentisches Archiv an der Schnittstelle von freier Organisation und institutioneller Hochschulpolitik und hätte dadurch durchaus charakteristische Überschneidungen mit studentischen Bewegungen: Wenn es größere Proteste und politische Aktionen an Berliner Hochschulen gab, so waren ASten in sehr vielen Fällen in irgendeiner Form involviert und sei es nur, dass finanzielle Mittel und Infrastruktur zur Verfügung gestellt wurden. Viele der an der Hochschule politisch aktiven Student_innen stellen sich wiederum zu Wahlen für das Stupa und den AStA auf, schon alleine um mehr Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu bekommen. Die größere Trennlinie, die auch für ein studentisches Archiv sinnvoll wäre, verliefe also nicht zu studentischen Institutionen an der Universität, sondern zu der Institution Universität an sich.

Studentische Bewegungen heute

Es stellt sich nun noch die Frage, wie es denn um die studentische Bewegung heutzutage gestellt ist, deren Geschichte man in einem Archiv dokumentieren, sortieren und zugänglich machen möchte? Die Antwort dazu heißt heute, wie auch vor der Pandemie: schlecht.

Denn die verschiedensten Versuche hochschul- und bildungspolitischer Kampagnen6 an Berliner Hochschulen lassen sich genauso wenig als eine zusammenhängende soziale Bewegung bezeichnen, wie die Hochschul-Ableger von Initiativen und Protesten die stärker außerhalb vom Raum der Hochschule angesiedelt sind.7 Diese Schwäche politischer Organisierung ist offensichtlich, kann aber sowohl als Grund, als auch als Hoffnung für den Aufbau eines studentischen Archivs dienen: Hoffnung für eine langfristige Perspektive ergibt sich, wenn es gelingt, ein solches Projekt auch in einer Zeit zu etablieren, in der kaum jemand ein Interesse daran hat, die Hochschule als einen Ort politischer Auseinandersetzung zu sehen oder schlichtweg die Zeit für das politische Engagement fehlt.8 Begründung und Motivation sehe ich darin gegeben, gerade in Zeiten von fehlender Strategie und kurzfristigen Kampagnen eine langfristige Struktur aufzubauen, anstatt zu resignieren.

Aber auch mit viel anfänglicher Motivation und Anbindung an studentische Institutionen bleiben gängige Grundprobleme freier Archive: zum einen der Mangel an Ressourcen und zum anderen, dass die Kontinuität oft an wenigen Personen hängt. Das erfordert mindestens eine ehrliche Auseinandersetzung damit, was man realistisch leisten kann und wie so ein Projekt in Zukunft im Zweifel auch ohne seine Gründer_innen funktionieren könnte. Ein Weg dahin kann in einer guten Vernetzung und sichtbaren Aktionen seitens des Archivs bestehen. Denn bei dieser Art von archivarischer Wissenssammlung handelt es sich ohne praktische Anbindung schnell um totes Wissen, welches trotz der Anhäufung schnell verloren geht, wenn es keine Auseinandersetzung damit gibt.9

Erst im Austausch und der Vernetzung mit anderen politischen Gruppen und Initiativen, die es an einer Hochschule gibt, entfaltet ein studentisches Archiv sein Potenzial und seine Wirkung. Denn über Öffentlichkeitsarbeit, eigene Veranstaltungen und Publikationen sowie gemeinsame Projekte mit anderen Strukturen erzeugt man die Legitimation für das eigene Anliegen der kritischen Geschichtsschreibung und bekommt so überhaupt erst die Chance, Mitstreiter_innen zu finden. Ausgangspunkt und Folge dieser Vernetzung ist der bessere, einfachere und schnellere Zugang zu den Archivmaterialien, den Bewegungsarchive als Vorteil gegenüber klassischen staatlichen Archiven mit sich bringen. Einerseits können die Archivar_innen meistens eine große inhaltliche Kenntnis vorweisen und damit den Kontext besser einordnen. Andererseits besitzen sie oft ein engeres Vertrauensverhältnis zu Materialspender_innen, da sie oft selbst in sozialen Bewegungen aktiv sind oder mindestens in Verbindung zu ihnen stehen.

Eine weitere Stärke des Archivierens von Protest an Hochschulen kann darin liegen, sich nicht explizit auf studentisches Engagement zu beschränken. Arbeitskämpfe von wissenschaftlichem wie nicht-wissenschaftlichem Personal werden ebenfalls kaum dokumentiert und sollten nicht als rein gewerkschaftliches Themenfeld begriffen werden. Kämpfe um eine demokratische Hochschule wurden nie nur von Studierenden geführt und die Verbindungslinien von gemeinsamen Interessen verschiedener Gruppen zu erkunden sollte Teil einer kritischen Hochschulgeschichtsschreibung sein.

Ein studentisches Archiv kann also ein Baustein für den Aufbau von langfristigen Strukturen sein, die wir benötigen, wenn wir an der Idee festhalten wollen, dass Hochschulen auch Orte der Bildung und Gesellschaftskritik sein können. Die Institution Hochschule nimmt zwar innerhalb des kapitalistischen Systems vor allem die Funktion ein, innovative, flexible und kreative Arbeitskräfte auszubilden. Gleichzeitig produziert sie dabei aber auch überschüssiges Wissen. Wir müssen uns heute zwar nicht mehr der Illusion der 68er hingeben, die »Intelligenzija« wäre das revolutionäre Subjekt, sollten aber auch das Potential der Wissensproduktion von fundamentaler Kritik an den Universitäten nicht aus den Augen verlieren: Studierende, die sich nicht trotz, sondern grade wegen ihres Studiums in Opposition zum bestehenden System befinden, wird es immer geben.10 Ein studentisches Archiv als Teil einer kritischen Hochschulgeschichtsschreibung kann und sollte zur kritischen Wissensproduktion beitragen und helfen, eine studentische Opposition aufzubauen und zu unterstützen, indem es Verbindungslinien aufzeigt und dabei hilft, sich trotz des heutigen Studiensystems nicht entpolitisieren zu lassen.

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1 Bernd Hüttner: „Archive der sozialen Bewegungen – Eine Übersicht über die Szene“, in: Archive von unten: Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, AG-SPAK-Bücher 2003, S.10.

2 Das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz) bewahrt neben neonazistischen und extrem rechten Kuriositäten auch eine Notebook-Tastatur des Computers auf, der von NSU-Watch zum Protokollieren des Münchener NSU-Prozess angeschafft wurde und dreieinhalb Jahre lang an 315 Prozesstagen zur Dokumentation dieses historischen Prozesses beigetragen hat.

3 Vgl. Hüttner 2003, S.10

4 In diesem Fall mit dem Schwerpunkt auf die „zweite oder sogenannte ‚Neue Frauenbewegung‘“. Mehr dazu unter:https://ffbiz.de/ueber-uns/geschichte/index.html.

5 Der Referent_innenrat (RefRat) an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) ist gesetzlich das, was an anderen Hochschulen in Berlin und Deutschland ein AStA ist, und ist im Folgenden selbstverständlich eingeschlossen, wenn von einem AStA gesprochen wird.

6 Die letzte große Kampagne war die um die Verbesserung des studentischen Tarifvertrags (TVStud) in Berlin, die über Hochschulen hinweg Studierende in einem gemeinsamen gewerkschaftlichen Kampf zusammengebracht hat.

7 Als jüngere Beispiele in Berlin sind das etwa 2019 Students For Future-Gruppen als Pendant zu Fridays For Future Protesten, eine hochschulübergreifende Deutsche Wohnen und Co. enteignen Gruppe oder Proteste gegen den Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien im Herbst 2019.

8 Siehe dafür auch meine Überlegungen in: Fabian Bennewitz: „Zeitnot und Organisation“, in: HUch #89, Juni 2019, S. 13–15.

9 Vgl. Ebd., S. 14.

10 Ausgeführt ist die Überlegung in: Joshua Schultheis: „Warum Hochschulpolitik“, in: HUch #87, Januar 2018, S. 21–22.