Die Plattform-Variante – HUch#92

| von Anna Lena Menne |

Pandemiebedingt sind heute mehr Menschen online als jemals zuvor, gleichzeitig sinkt die Vorsicht im Umgang mit digitaler Technologie. Dies ist bedenklich, denn im digitalen Raum bedroht eine neue Herrschaftsform unsere Souveränität.

Bild: Loup Deflandre

Es ist paradox: Trotz Kontaktverfolgungs-Apps, verstärkter Überwachung und einem regelrechten Digitalisierungsschub von Staat und Gesellschaft scheinen Datenschutzbedenken in Europa tendenziell zu sinken.1 Heute hält eine Pandemie die Welt in Atem und kommunikationstechnische Infrastrukturen schaffen den ersehnten Ausgleich zu Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Doch gerade deshalb ist es wichtiger denn je, für Datenschutz zu kämpfen. Warum? Eine kritische Perspektive hilft zu offenbaren, dass Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat globale Gesellschaften bis heute dominieren und seit den 90er Jahren zu einer neuen Variante mutieren konnten: der Plattform-Variante. Bedingt durch die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte dominiert nun diese neue Variante den digitalen Raum. Sie zeichnet sich insbesondere durch Machtkämpfe um den größten Vorratsspeicher an Informationen für Profit aus, da mit den meisten Daten auch eine Vormachtstellung über menschliche Wahrnehmung von Realität einhergeht. Dies ist problematisch, denn darunter leidet die Souveränität von Staaten und Individuen. Der Digitalisierungskatalysator COVID-19 legitimiert zudem die Daseinsberechtigung digitaler Infrastrukturen und verstärkt somit die Logik der Plattform-Variante weiter. So wachsen Ungleichheiten zwischen jenen, die Plattformen bereits souverän navigieren und jenen, die mit ihren Daten unwissentlich auch ihre Realität gefährden. Aber was sind eigentlich Daten?

Daten, Wissen und Realitätskonstruktion

Unsere ganze Welt besteht aus Daten. Eine einheitliche Definition gibt es nicht, denn ihre Bedeutung unterscheidet sich kontextual. In der elektronischen Datenverarbeitung können Daten beispielsweise als noch nicht verarbeitete Symbole, wie Zahlen oder Buchstaben verstanden werden.2 Laut der Open Knowledge Foundation Deutschland werden Daten wiederum zu Informationen, wenn sie strukturiert und in einen Kontext zueinander gestellt werden und Informationen werden zu Wissen, wenn sie sinnvoll interpretiert wurden.3 Aber es sind nicht nur Computer, die Daten strukturieren, auch Lebewesen und Organismen tauschen Daten aus, um sich zu verständigen. Je nach kulturellem Kontext tauschen wir wertaufgeladene Symbole mit anderen Menschen4 und zunehmend auch mit Kommunikationstechnologien.5 In diesem kommunikativen Austausch von Daten konstruieren wir dann Informationen und Wissen sowie eine subjektive Wahrnehmung der Realität.6 Wer also Kommunikation beeinflusst und Daten bestimmt oder prägt, kann auch die Realität ihrer Empfänger_innen graduell formen. In modernen Gesellschaften definiert vor allem eine dominante Version von Wissen die Realitätswahrnehmung vieler Menschen, nämlich jenes, das akademisch produziert wird.7 Und da aktuelle Forschungsparadigmen noch immer von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat bestimmt werden, beeinflussen sie auch heute noch gesellschaftliche Prozesse, wie Digitalisierung, Globalisierung und Plattformisierung.

Coronavirus und Plattformisierung

Plattformen wie Facebook, Amazon oder Google durchdringen inzwischen fast alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Insbesondere im Zuge von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ist dieser Einfluss stark gewachsen. So nahm in nur einer Woche Lockdown der Datenverkehr im März 2020 europaweit um 15 bis 20% zu.8 Darüber hinaus entpuppten sich Plattformen für ortsübergreifende Kommunikation, wie Zoom, Anbieter von Cloud-Ressourcen wie Google Cloud, Plattformen für Onlinehandel wie Amazon und Streamingdienste wie Netflix als die ökonomischen Gewinner_innen der Pandemie.9 Der sogenannte Plattformisierungsprozess beschreibt diese Transformation auf insbesondere drei Ebenen: Daten-Infrastruktur, -Märkte und -Regulierung.10

Daten-Regulierung

Im Zuge der symbolisch-ideologischen Herrschaft des neoliberalen Kapitalismus überließ man vielen Plattformunternehmen ihre eigene Regulierung. In Deutschland wurde die staatliche Netzstruktur der Post in den 90er Jahren privatisiert11 und auch in den USA regulieren sich private Tech-Firmen heute größtenteils allein. Dies führte unter anderem zur Monopolbildung und Machtausweitung dieser Plattformunternehmen. Als quasi-souveräne Akteur_innen schaffen Plattformen völlig neue Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Staat, Individuum und Wirtschaft. Sie gefährden also die Selbstbestimmung sowohl demokratischer, als auch autoritärer Staaten.12 Zusätzlich bedrohen sie mit ihrer Infrastruktur und Marktlogik die Autonomie ihrer Nutzer_innen.

Daten-Infrastruktur

Während der Begriff der Plattform im allgemeinen Sprachgebrauch das Bild eines flachen und wertfreien Konstrukts zeichnet, verbirgt sich hinter diesem sprachlichen Symbol ein wertaufgeladenes und vielschichtiges Netzwerk an menschlich geschaffenen und deshalb auch (um-)programmierbaren Infrastrukturen. Diese ermöglichen und gestalten personalisierte Interaktionen zwischen Endnutzer_innen und Drittanbieter_innen, wie z.B. App-Entwickler_innen. Außerdem zeichnen sich Infrastrukturen durch systematisches Erfassen und algorithmisches Verarbeiten sowie darauffolgendes Monetarisieren und Weiterverbreiten von Daten aus.13 Jede Interaktion im digitalen Raum, jeder Like, jeder Kommentar, jede Sekunde, in der sich etwas angesehen wird, hinterlässt winzige Datenspuren. Diese werden gespeichert, in einen Kontext zueinander gestellt und liefern so beispielloses Wissen über menschliches Sozialverhalten. Deshalb spricht man im Datenschutzrecht auch von personenbezogenen Daten, und meint damit „alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen.“14 Viele Nutzer_innen sind sich dem Gebrauch und Missbrauch dieser Mechanismen für Profit leider nicht bewusst.

Daten-Märkte

Die Netflix-Dokumentation The Social Dilemma zeigte vergangenes Jahr, wie digitale Infrastrukturen gezielt private Gespräche, Gedanken und Wünsche stimulieren, diese überwachen und als Daten in Wissen übersetzen, um sie an Meistbietende zu verkaufen. Somit werden Menschen zur Handelsware.

Die Kommunikationswissenschaftler Nick Couldry und Ulises A. Mejias bezeichnen diesen Handel im digitalen Raum auch als Daten-Kolonialismus.15 Ihr Vergleich verweist also zunächst auf die bereits angedeutete Ausbreitung bestehender Herrschaftsstrukturen. Im Kontext dieses Textes deutet der Vergleich aber auch eine Mutation zur neuen Plattform-Variante an, da moderne Herrschaftsstrukturen als Transformationen früherer Hierarchien verstanden werden können16 – ganz ähnlich der andauernden Replikation und Mutation von Viren.

Vom Herrschaftsvirus zu Plattform-Variante

Obwohl ein Großteil der neuen Herrschaftsform im digitalen Raum also klassischen Herrschaftsstrukturen ähnelt, hat sie auch eigene Dynamiken. So geht die Plattform-Logik z.B. über den altbekannten Kapitalismus hinaus. Firmen verkaufen nicht unbedingt Daten selbst, sondern die daraus gewonnenen Informationen, also versprochenes Nutzungs- oder Kaufverhalten, welches wiederum zur Optimierung von Geheimhaltungs- und Profitlogik genutzt wird.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff belegt in ihrer renommierten Theorie zum Überwachungskapitalimus, dass Plattformen vorausschauendes Wissen gewinnen, um gezielt zu manipulieren.17 So zahlten beispielsweise Geschäfte im Rahmen des Spiels Pokemón Go im Voraus für garantierte Laufkundschaft und nichts ahnende Spieler_innen wurden somit zum Kauf gedrängt. Die Plattform-Variante nährt sich also von prädikativen Daten, das heißt Informationen über zukünftiges Nutzungsverhalten. Hierin liegt auch die erhöhte Ansteckungsgefahr.

Mit der Masse an Daten wachsen Plattformunternehmen organisch mit. Je mehr und vielfältiger die Daten sind, umso besser sind Verhaltensvorhersagen und umso leiser die Eingriffe in menschliches Handeln und Realität. Denn durch konstantes Anpassen ihrer Infrastrukturen umgehen Plattformen das Bewusstsein ihrer Nutzer_innen. Dieses in sich geschlossene Überwachungssystem mit Ausweitungstendenz bietet der Instanz mit den meisten Daten auch den längsten Hebel über unsere soziale Realität.

Daten und Manipulation

Während Überwachungskapitalismus vorrangig von ökonomischem Profit angetrieben wird, bewiesen die Enthüllungen um Edward Snowden sowie der Skandal um Cambridge Analytica, dass der Wettkampf um Daten auch andere Interessensgruppen wie Parteien oder Staaten anlockt. So gestand Cambridge Analyticas Daten-Analyst Christopher Wylie, dass er Steve Bannons „psychologisches Kriegsgerät“ entworfen hätte, und bezieht sich damit u.a. auf die Verbindungen des Datenanalyse-Unternehmens mit der US-Wahlkampfkampagne von Donald Trump.18 Edward Snowden bewies auf der anderen Seite, dass auch Nachrichtendienste digitale Infrastrukturen für ihre Überwachungspraktiken nutzen.19

Allein die Existenz dieser Whistleblower_innen belegt über die Geheimhaltungspraktiken der quasi-souveränen Akteure hinaus auch die Gefahren für unsere Autonomie und Selbstbestimmungsrechte. Denn wer die Infrastrukturen schafft, bestimmt auch, was Nutzer_innen wahrnehmen.

Plattform-Patriarchat

Menschliche Schaffer_innen digitaler Infrastrukturen – im Silicon Valley oft weiß, technisch versiert und männlich – implementieren unweigerlich eigene wertaufgeladene Symbole in Computertechnik. Interaktion innerhalb des digitalen Raums wird also zwangsläufig von ihren Wertvorstellungen geleitet. Es ist wichtig, dies hier zu betonen, denn weltweit stellen nordamerikanische Plattformunternehmen noch immer einen Großteil der digitalen Infrastruktur.20

Folglich prägen auch kapitalistische, koloniale und patriarchale Werte des globalen Nordens große Teile der Technik, die wir tagtäglich nutzen. Dr. Safiya Umoja Noble, Mitbegründerin des UCLA Centers for Critical Internet Inquiry, deckte diese symbolische Herrschaft zum Beispiel in Googles Suchmaschinenalgorithmus auf.21 So zeigte ihre Suche nach „black girls“ 2012 als erstes Ergebnis noch „HotBlackPussy.com“ und ihre Maps-Suche nach „N**** House“ 2016 zu Zeiten Obamas Präsidentschaft eine Wegbeschreibung zum Weißen Haus.

Digitale Ungleichheit

Obwohl die digitale Revolution ein goldenes Zeitalter für Chancengleichheit versprach, bescherte sie uns noch ein weiteres Symptom sozialer Ungleichheit: epistemische Ungleichheit22. Sie beschreibt in diesem Kontext nicht nur ungleichen Zugang zum Wissen über uns selbst sondern auch zur Macht über unsere Realität. Die Plattform-Variante spaltet also Gesellschaften und vergrößert den Abstand zwischen dem, was wir für uns selbst tun können und dem, was uns angetan werden kann.

Es ist unumstritten, dass Technologie heute Familien, Freund_innen oder Kolleg_innen verbindet, gar ungeahnte Chancen für globale Gesellschaften bereithält. Ohne digitale Infrastrukturen wären die Abstände zwischen uns heute um einiges größer und die eigene Wohnung deutlich kleiner. Um die eigenen Daten zu schützen, ist es deshalb umso wichtiger, Technologien wie Plattformen mit Vorsicht zu nutzen.

Die Profitmaximierungslogik der Plattformen zeigt jedoch auch, dass mit der Menge an Daten zugleich die Resilienz der Plattform-Variante steigt. Denn je mehr Menschen versuchen, die digitalen Infrastrukturen zu navigieren, umso mehr Daten werden gesammelt, umso besser und leiser wird das System und umso schwieriger ist es, eingebaute Fallen zu umgehen, um die eigenen Daten zu schützen. Ein Digitalisierungsschub legitimiert die Herrschaftsstrukturen der Plattform-Variante also weiter.

Angetrieben durch Überwachungskapitalismus, das Silicon Valley-Patriarchat und Daten-Kolonialismus, konkurrieren heute private und staatliche Akteur_innen um den größten Vorratsspeicher an Daten. So bündelten sich drei der gewaltvollsten Herrschaftsformen der Moderne zur neuen Plattform-Variante. Und so wie auch die Bezeichnungen der SARS-CoV-2 Varianten ihr jeweiliges Herkunftsland mit ihrem Spitznamen öffentlich diskriminieren, heißt diese Mutation hier zurecht die Plattform-Variante.

Allerdings ist sie nur eine Mutation von vielen und vor allem ist sie – genauso wie die Herrschaftsformen, deren Ergebnis sie ist – sozial konstruiert. Also liegt die Macht, sie zu verändern, auch wieder bei den Menschen. Um epistemische Ungleichheit auszugleichen, muss Wissen über das eigene Nutzungsverhalten sowie die Logik der Plattform-Variante zugänglicher werden. Wie im Kampf gegen das Coronavirus gilt also: mehr testen, besser verstehen und aufklärendes Wissen impfen.

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1 GlobalWebIndex: Connecting the dots, 2020. Online unter: https://www.globalwebindex.com/reports/trends-2021

2 Daniel Chandler, Rod Munday: A Dictionary of Media and Communication (Online Version), Oxford University Press, 2020.

3 Stefan Baack: „Datafication and empowerment: How the open data movement re-articulates notions of democracy, participation, and journalism“, in: Big Data & Society, Vol. 2, Nr. 2, Juli 2015, S. 1–11.

4 Siehe Symbolischer Interaktionismus.

5 Nick Couldry, Andreas Hepp: The Mediated Construction of Reality, Polity Press, 2017.

6 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge. Penguin Books, 1966.

7 Gernot Saalmann: „The Epistemological Foundations of Scientific Knowledge“,in:Transcience, Vol. 11, Nr. 2, 2020, S. 106–122.

8 Anja Feldmann, Oliver Gasser, Franziska Lichtblau, Enric Pujol, Ingmar Poese, Christoph Dietzel, Daniel Wagner, Matthias Wichtlhuber, Juan Tapiador, Narseo Vallina-Rodriguez, Oliver Hohlfeld, Georgios Smaragdakis: The Lockdown Effect: Implications of the COVID-19 Pandemic on Internet Traffic, Konferenzpapier zu: Proceedings of the ACM Internet Measurement Conference, Virtual Event, Oktober 2020, S. 1–18.

9 Tobias Weldemann: „Das sind die Gewinner und Verlierer der Coronakrise in der Tech-Welt“, in: t3n digital pioneers, 12. Mai 2020. Online unter: https://t3n.de/news/gewinner-verlierer-coronakrise-1278820/

10 Thomas Poell, David Nieborg, José van Dijck: „Platformisation“, in: Internet Policy Review, Vol.8, Nr. 4, November 2019.

11 Jeanette Hofman, Ronja Kniep: „Wen oder was schützt die Netzpolitik? Eine Retrospektive“, Konferenz von netzpolitik.org im Format Das ist Netzpolitik!, Berlin, 11. November 2019. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=GRHF5vDLEiA

12 Julia Pohle, Thorsten Thiel: „Digital sovereignty“, in: Internet Policy Review, Vol. 9, Nr. 4, Dezember 2020.

13 Thomas Poell, David Nieborg, José van Dijck: „Platformisation“, in: Internet Policy Review, Vol.8, Nr. 4, November 2019.

14 Europäische Union: Begriffsbestimmungen (Art. 4 DSGVO), 2018. Online unter: https://dsgvo-gesetz.de/art-4-dsgvo/

15 Nick Couldry, Ulises A. Mejias: „Making data colonialism liveable: how might data’s social order be regulated?“, in: Internet Policy Review, Vol. 8, Nr. 2, Juni 2019, S. 1–16.

16 Boike Rehbein: „Social Inequality and Sociocultures“, in: Methaodos. revista de ciencias sociales, Vol. 8, Nr. 1, März 2020, S. 10–21.

17 Shoshana Zuboff: The age of surveillance capitalism: the fight for a human future at the new frontier of power, Public Affairs, 2019.

18 Carole Cadwalladr: „,I made Steve Bannon’s psychological warfare tool’: meet the data war whistleblower“, in: The Guardian, 18. März 2018. Online unter: https://www.theguardian.com/news/2018/mar/17/data-war-whistleblower-christopher-wylie-faceook-nix-bannon-trump

19 GUARDINT. (N.A.): About us: Oversight and intelligence networks: Who guards the guardians?. Online unter: https://guardint.org/about/

20 Therese Wood: „The World’s Tech Giants, Ranked by Brand Value“, in: Visual Capitalist, 4. August 2020. Online unter: https://www.visualcapitalist.com/the-worlds-tech-giants-ranked/

21 Sofiya U. Noble: Algorithms of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism, New York University Press, 2018.

22 Shoshana Zuboff: „Caveat Usor: Surveillance Capitalism as Epistemic Inequality“, in: Kevin Werbach (Hrsg.): After the Digital Tornado: Networks, Algorithms, Humanity, Cambridge University Press, 2020.