Unter ihren Augen – HUch#91

| von Kofi Shakur |

Die Netflix-Serie Who killed Malcolm X wirft einen erneuten Blick auf die Todesumstände des berühmten Aktivisten und fördert dabei viel Altbekanntes zutage – darunter die rassistischen Motive im Handeln staatlicher Strukturen.

Bild: Mariana Papagni

James Baldwin, der ein enges Verhältnis zu Malcolm X unterhielt, beschreibt 1972 in Eine Straße und kein Name, wie einfach es ist, diese zum Mythos gewordene Figur nach Belieben für sich in Anspruch zu nehmen. Über sein Leben und seinen Tod gibt es verschiedene Erzählungen je nachdem, wen man fragt. Auch die Doku-Serie Who killed Malcolm X, die im Februar 2020 auf Netflix erschienen ist, versucht sich an einer eigenen Erzählung der Geschehnisse um den Mord. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich jedoch, dass es sich um eine dramatisierte Inszenierung bereits bekannter Informationen handelt.

Die Geschichte seines Todes, wie sie bekannt ist und auch zu Beginn der Doku wiedergegeben wird: El-Hajj Malik El-Shabazz, besser bekannt als Malcolm X, wird am 21. Februar 1965 bei einer Rede im Audubon Ballroom in New York erschossen, nachdem bereits eine Woche zuvor ein Bombenanschlag auf sein Haus verübt worden war. Bis zu fünf Schützen und Gehilfen inszenieren – von seinem Sicherheitsteam unbemerkt – einen Tumult, der die Aufmerksamkeit der Zuhörer_innen auf sich zieht. Ungewöhnlicherweise ist so gut wie keine Polizei vor Ort – lediglich einzelne Beamte sind auf Dächern positioniert.

In den unübersichtlichen Momenten, die dem Attentat folgen, wird einer der Täter – Thomas Hagan aka Talmadge Hayer aus New Jersey – am Tatort von einem Bodyguard ins Bein geschossen und von den Anhänger_innen von Malcolm X überwältigt. Er wird schließlich festgenommen, als die Polizei nach einiger Zeit in größerer Zahl, aber mit wenig Tatendrang oder Interesse den Ort des Geschehens betritt. Erst ein paar Tage später verhaftet die Polizei die weiteren Tatverdächtigen Thomas 15X Johnson und Norman 3X Butler. Johnson und Butler kommen anders als Talmadge Hayer aus Harlem und sind für ihre Antipathien gegenüber dem Abtrünnigen der Nation of Islam (NoI)[1] bekannt. Die drei werden zusammen verurteilt und damit ist für die Justiz der Mord an Malcolm X aufgeklärt, der Fall abgeschlossen.

Im Jahr 1977 macht Hayer allerdings unter Aufsicht des Bürgerrechtsanwalts William Kunstler zwei Aussagen, in denen er die Unschuld der anderen beiden Verurteilten beteuert. Darin nennt er erstmals namentlich vier weitere seiner Mitverschwörer, darunter auch William Bradley, die alle zu der Gemeinde einer Moschee, der Muslim Mosque #25 in Newark, New Jersey gehören. In einem Interview mit CBS sagt James Shabazz, der damalige Minister der Mosque #25 aus dem betroffenen Bezirk, dass es ihn nicht überraschen würde, wenn es nach Malcom X‘ Verrat an der Nation of Islam jemand auf ihn abgesehen hätte.

Durch das in der Doku rezipierte Material der FBI-Operation zu seiner Überwachung wird klar, dass gefälschte Briefe und in Umlauf gebrachte Gerüchte Malcolm X und die NoI auseinanderbringen sollten. Besonders die Familie von Elijah Muhammad, dem Führer der NoI zu diesem Zeitpunkt, fürchtet den bescheiden lebenden und politisch radikalen Minister Malcolm X, der mit den Details ihres Lebens vertraut ist. Im Streit mit der Nation offenbart Malcolm X schließlich der Öffentlichkeit, dass Elijah Muhammad mit ehemaligen persönlichen Sekretärinnen Kinder gezeugt und sie aus der NoI verstoßen hat. Für viele Mitglieder der Nation ist das eine nicht wiedergutzumachende Schmähung ihres Propheten. Und auch wenn Elijah Muhammad noch während seiner Amtszeit immer wieder öffentlich betont, dass niemand Hand an seinen ehemaligen Schützling legen solle, gibt es unter Mitgliedern der NoI zahlreiche Referenzen auf einen herbeigesehnten Tod von Malcolm X, oft verpackt in religiöse Metaphern.

Vor allem im späteren Verlauf seines Lebens gerät Malcolm X verstärkt in das Visier des staatlichen Überwachungsapparates, da er nach seiner Trennung von der NoI beginnt, einen anderen Fokus zu setzen. Mit der Muslim Mosque Inc. nähert sich Malcolm X dem sunnitischen Islam an und entfernt sich von den Thesen der Nation of Islam. Dazu erweitert die neu gegründete säkulare Organisation of Afro-American Unity (OAAU) ihren Bezug auf Civil Rights und betrachtet sich als Menschenrechtsorganisation über Konfessionsgrenzen hinweg. Alte Konflikte – etwa mit Martin Luther King – sollen überwunden und eine breitere Front aufgestellt werden, um als legitime Vertretung Schwarzer Menschen in den USA auf internationaler Ebene auftreten zu können und für die Befreiung von Schwarzen Menschen weltweit zu kämpfen.

Als Malcolm X nach seiner endgültigen Trennung von der Nation im Jahr 1964 Afrika bereist und unter anderem Mohamed Babu aus Sansibar trifft, wird er vom FBI beschattet. Gleichzeitig wird ihm eine Behandlung zuteil, die sonst nur Staatsgäste erfahren. Er tritt auf wie ein Vertreter der Schwarzen USA. Die OAAU will dafür eine organisatorische Basis schaffen. Derweil stellt sich die Perspektive einer Revolution in den USA als immer notwendiger und unausweichlicher dar. So fallen schließlich die Absichten der US-Behörden und der NoI zusammen und die einen planen unter den Augen der anderen die Ermordung von Malcom X, die nur gelingen kann, weil sie gelingen soll.

Die Doku stellt berechtigterweise die Frage, weshalb die beiden von Talmadge Hayer entlasteten Mitangeklagten nicht freigesprochen wurden, und der Fall nicht neu aufgerollt wurde. Bestimmte Hintermänner sollen geschützt werden, so die Vermutung der Historiker_innen in der Doku. Erst im Jahr 2010 stößt Abdur-Rahman Muhammad, Protagonist der Serie Who killed Malcom X, durch Zufall darauf, dass der vormals als William Bradley bekannte, juristisch unbelangte, aber mutmaßliche Mörder unter dem Namen Al-Mustafa Shabazz ungestört weiterhin in Newark lebt. Schließlich gewinnen Muhammads Erkenntnisse genügend Aufmerksamkeit, um ihn als Erzähler und Protagonisten in der Netflix-Doku die Biografie und die Umstände des Todes von Malcolm X beleuchten zu lassen.

Im Rahmen dieser Arbeit wird nun auch der Fall von Norman 3X Butler, der inzwischen als Muhammad Abdulaziz bekannt ist und 1985 aus der Haft entlassen wurde, neu aufgerollt. In der Doku wird geschildert, dass Butler und Johnson sich dem Audubon Ballroom auf keinen Fall genähert haben können, da sie und ihre Feindschaft zu Malcolm X bekannt waren. Unter dem Filmmaterial, das der Produktionsfirma laut dem Journalisten und Historiker Karl Evanzz zugesandt worden sein soll, befindet sich jedoch eine Aufnahme, auf der Sharon 6X Poole, zu dem Zeitpunkt Sekretärin von Malcolm, zu hören ist, wie sie sagt, dass die Schützen Schwarze Muslime aus Harlem waren und sie Butler an seinem Mantel erkannt hätte. Das Material, so Evanzz, wurde nicht weiter beachtet und auf seine Nachfrage, ob von ihm nicht näher genannte, bestimmte Personen vor die Kamera treten könnten, reagierte die Produktionsfirma nicht, weswegen er auch ablehnte, an der Serie mitzuarbeiten.

Baba Zak Kondo, der kurz in der Doku auftaucht, macht bereits 1993 in seinem nach elf Jahren Recherche erschienenen Buch Conspiracies: Unravelling the Assassination of Malcolm X Angaben zu den vier Männern, die Hayer in seinem Affidavit 1977 nennt. Leon Davis etwa soll in Paterson, New Jersey leben. Für Kondo ist es unverständlich, dass niemand den Versuch unternommen hat, ihn zu kontaktieren, um den Fall so möglicherweise aufzuklären. Denn im Gegensatz zu Evanzz ist Kondo davon überzeugt, dass Butler und Johnson unschuldig sind. Die Doku folgt in ihrem Narrativ zu großen Teilen seiner Arbeit. Es handelt sich also weder um komplett neue Erkenntnisse, und bis auf den neuen Namen von William Bradley und dessen Aufenthaltsort auch nicht um Erkenntnisse, die Abdur-Rahman Muhammad selbst gewonnen hätte. Denn in Newark war und ist die Anwesenheit Bradleys in der Community ein offenes Geheimnis. Lange Zeit lebt er als rehabilitiertes Mitglied der Gemeinschaft und taucht als Leiter eines Boxvereins für Jugendliche sogar in einem Werbespot auf – wodurch er letzten Endes auch von Muhammad ausfindig gemacht wird. Dies passiert jedoch wie gesagt 2010 – also vor einer Dekade.

Für die Dramaturgie der Doku ist es jedoch anscheinend notwendig, diese Information bis zum Schluss zurückzuhalten. Stück für Stück nähern wir uns den wirklichen Tatsachen, und stoßen immer wieder auf Personen, die vielleicht die Wahrheit wissen könnten, in der Hoffnung, dass sie sie mit dem Publikum teilen. Als das Geheimnis über die Identität von William Bradley aka Al-Mustafa Shabazz gelüftet ist, versucht Muhammad, diesen persönlich aufzusuchen. Genau an diesem Tag erfährt er jedoch von dessen Tod. Der letzte Teil des Rätsels, nämlich der wahrscheinlich letzte lebende Attentäter, entzieht sich somit dauerhaft unserem Zugriff.

Daneben fällt auf, dass neben Baba Zak Kondo – ohne diesen allerdings in dem Maße, in dem sein Buch der Doku als Grundlage dient, als Quelle zu benennen – vor allem die Biographie von Manning Marable herangezogen wurde, um den nötigen Kontext zu liefern. Zaheer Ali, der als Forscher an Marables Biographie beteiligt war, spielt ebenfalls eine Rolle in der Doku. Das Buch ist jedoch äußerst umstritten. Herb Boyd sowie Jared Ball und Todd Burroughs brachten jeweils Gegendarstellungen mit dem Titel Malcolm X: Real not Reinvented bzw. A Lie of Reinvention heraus, in denen unter anderem Karl Evanzz, Zak Kondo, Mumia Abu-Jamal, Ta-Nehisi Coates und nicht zuletzt Malcolm X‘ Tochter Ilyasah Shabazz zu Wort kommen. Viele der Historiker_innen und Bekannten von Malcolm X werfen Marable vor, Tatsachen verfälscht oder Informationen aus fehlerhaften Quellen übernommen zu haben. Jared Ball erwähnt auch die Lektorin des Buches, die nach eigenen Angaben aus einer eher konservativen Familie stammt, in der die radikale Haltung von Malcolm X und seine Ablehnung der Integration als einschüchternd wahrgenommen wurde. Sie habe auch in gewissem Maße mit der Zustimmung von Marable Änderungen am Manuskript vorgenommen. Daraus schließt Ball, dass durch ihre Voreingenommenheit besonders nach Marables Tod bedeutende Elemente seiner politischen Ausrichtung verwässert worden sein könnten.

Was die Darstellung des Todes von Malcolm X in der Doku betrifft, bleibt das Bild somit leider unvollständig und die zugrundeliegende Recherche oft lückenhaft. Hervorheben kann man jedoch, dass die Doku einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führt, mit welchen Mitteln Polizei und FBI auch heute noch gegen Schwarze Bewegungen vorgehen. Gefälschte Briefe, abgehörte Telefonate und in Umlauf gebrachte Gerüchte gehören dabei zur Grundausstattung.

Wer Malcolm X nun getötet hat, wird von der Doku nicht abschließend beantwortet. Butler und Johnson werden jedoch als unschuldig angesehen und der Fokus vor allem auf William Bradley aka Al-Mustafa Shabazz gelegt. Auf die weiteren, von Hayer belasteten mutmaßlichen Mörder wird nicht im gleichen Maße eingegangen. Auch die Frage, wer für den Mord verantwortlich war, wird mit Blick auf das FBI und die New Yorker Polizei nur ansatzweise geklärt. Eindeutig ist, dass sowohl die Führungsebene der NoI als auch der Staat ein Interesse an seinem Tod hatten. Sowohl Elijah Muhammad als auch J. Edgar Hoover, der damalige Leiter des FBI, haben sich in bestimmten Situation für seinen Tod ausgesprochen.

Der Mord an Malcolm X und wenige Jahre später der Mord an Martin Luther King, wie auch die vielen Morde an Mitgliedern der Black Panther Party und das allgemeine Niveau der Repression gegen linke und Schwarze Bewegungen überlassen einen Großteil politischer Aktivist_innen entweder dem Tod oder dem Gefängnis. Rassismus und Polizeigewalt nehmen jedoch nicht ab, sondern treten immer offener zutage, was sich an den Protesten zeigt, die sich international ausgebreitet haben. Wie der Black Panther, Black Liberation Army Gründer und ehemalige politische Gefangene Dhoruba bin Wahad sagte, handelt es sich dabei jedoch nicht um eine Niederlage. Der Kampf wurde lediglich an die nächste Generation weitergegeben.

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[1] Die Nation of Islam ist eine Schwarze nationalistische Gruppe in den USA. Die Lehren ihres Gründers Wallace D. Fard weichen stark von anderen Strömungen innerhalb des Islam ab. Der als »Messenger« bekannte Nachfolger Fards, Elijah Muhammad, hat anfänglich ein väterliches Verhältnis zu Malcolm X, der zum bekanntesten Sprecher der Nation wird. mithilfe gezielter Manipulation durch das FBI und Mitglieder aus Elijah Muhammads eigener Familie zerbricht jedoch die Beziehung der beiden an den schon vorher aufkommenden Widersprüchen. Muhammad duldete Malcolms Drang nach Politisierung der Schwarzen Muslime nicht. In der Doku heißt es dazu sinngemäß: Elijah Muhammad war religiös, Malcolm X war politisch.