Kuschelkurs Urlaubskolonialismus – HUch #97

| von Gert Hasbrüler |

Es ist nicht nur das mitteleuropäische Auge, das wandert. Schwärme von Menschen verreisen jedes Jahr – um zu „erfahren“, zu entdecken oder um zu „lernen“. Doch das bildungsbürgerliche Ideal dieses vermeintlichen Erfahrens bröckelt.

Urlaubszeit ist Erholungszeit. Endlich darf die Last des Alltags abgeworfen werden – auf der Reise in ferne und nahe Länder soll die Abwechslung den sonst so tristen Arbeitsalltag ertragbar machen. Daneben erhofft man sich, den eigenen Horizont zu erweitern, was frei nach Humboldt zur Persönlichkeitsbildung beitragen sollte. Und zugleich nicht unvergessen macht der Urlaub nebenbei sogar noch etwas: Spaß. Doch obwohl der Kapitalismus den modernen Urlaub zum erschöpfungsausgleichenden Massenphänomen hochskalierte, blicken viele noch mit Humboldts Augen auf die Möglichkeiten des Verreisens. Es bedarf einer Neubetrachtung: Wie gestalten sich die verschiedenen gesellschaftlichen Aspekte, die das ideologische Phänomen „Urlaub“ mitunter annimmt?

Das vielleicht kleinste Übel des Reisehypes, der mit dem Urlaub identisch geworden ist, sind wahrscheinlich die zahlreichen, studierenden Blagen, die mit ihren Interrailtickets großzügig Züge verstopfen. Wobei mindestens der eine Teil die Ruheabteile zu Erwachsenen-Spielplätzen umfunktioniert, während der andere die schon raren Sitzmöglichkeiten mit Wanderrucksäcken okkupierten muss. Dass es mal wieder diese Zeit des Jahres ist, erkennt man auch daran, dass alle Freund_innen und Bekannte der Stadt entflohen sind – diese aber im Gegensatz zur Weihnachtszeit nicht leerer zu werden scheint. Denn zu Tausenden fallen nun wieder Horden von Urlaubsreifen und Reiselustigen in fremde Länder ein. Darum hat sich ein ganzer Lifestyle entwickelt – das Reisen, das ist auch ein Lebensgefühl, ein Prestigeobjekt, ein vibe. So zieht sich die wohl hochgelobteste Unsitte der westlichen Welt durch die Moderne und macht vor keiner sozialen Schicht halt.

Das Phänomen ist genauso intergenerational: Die Jugend wird dazu angehalten, ihre noch freie Zeit zu nutzen, etwas zu erleben um sich und den eigenen Charakter zu bilden. Sie soll etwas sehen von der Welt – das helfe der Entwicklung – während ihr Weltbild unter den starren Vorgaben von Urlaub und seiner Ausschlachtung damit nur noch fester gezurrt wird. Danach werden sie rastvoll wie widerstandslos in die Produktions- und Verwertungsmaschiniere eingereiht. Der gemeine Erwachsene dagegen muss diese Erlebnisse gelegentlich auffrischen und sich dabei für den Arbeitsalltag fit halten: Schließlich ist er auf die Illusion auf Freiheit und Autonomie angewiesen, die ihm die 30 Urlaubstage im Jahr bringen. Der Rentner hingegen nutzt die ihm verbliebene Zeit (sollten Rente und Gesundheit, wie für die wenigsten Menschen, tatsächlich ausreichen) vor allem für Urlaub, der eher synonym für ausgiebigen Konsum steht, wie dies beispielsweise bei Kreuzfahrten der Fall ist.

Während man die Älteren oft noch an an ihren mit Ländern beklebten Koffern erkennen kann, präsentiert sich die jüngere Generation eher virtuell auf den sozialen Plattformen. Travel, Vacation, Backpacking – die Label der modernen Weltenbummler_innen, die stolze Reversnadel, das mutig erkämpfte Abzeichen, getragen in den Online-Biographien der digitalen Welt. Die Orden, die es für die Heere des Kulturimperialismus nicht gibt, steckt man sich nun eben selbst an. Zum Andenken holt man sich schließlich Souveniere wie als Beute nach Hause und präsentiert sich auf Bildern am Ort ihrer Herkunft. Es wird geposed, vor und auf dem, was schon so selbstverständlich unterjocht ist. So bleibt den Erfahrungshungrigen wenigstens der Schein, sie begäben sich noch in die Unmittelbarkeit von etwas Fremden – oder gar etwas Naturähnlichem. Doch weil sie selbst nur noch als Abbilder ihrer Heimat erscheinen, die der gleichen kapitalistischen Ökonomie verfallen ist, erfüllen sie selbst in der abgelegensten Gegend nur ihre grundlegende Funktion: sich für Arbeit regenerieren.

Jeder Urlaub funktioniert für sie also als eine Invasion, die den eigenen Sieg bestätigt. Was sich als Fremdes in anderen Kulturen vielleicht noch bewahrt und nicht schon Bekanntes ist, wird gar nicht erst verstanden Die vorgegaukelte Weiterentwicklung der eigenen Person kann so nur noch Lüge sein. Einmarschieren für zwei Wochen – oder ein halbes Jahr – heißt nicht dort leben; die gesellschaftliche Dynamik fremder Kulturen bleibt immer komplex und für Urlaub-Machende in der Regel nicht zwangsläufig verständlich, geschweige denn in kurzer Zeit erlernbar. Jede Behauptung einer großartigen Persönlichkeitsveränderung wird Teil der Urlaubsideologie. Im Zerrbild der mitteleuropäischen Brille wird stattdessen nur bestaunt: In allen Urlauber_innen steckt eben doch noch ein spähender kleiner Kolonialist. Das scheinbare positive Anerkennen der Andersartigkeit, der Wunsch, vielleicht irgendwann auszuwandern, um den heimischen Zwängen und seinem Stress zu entfliehen: Auch das bleibt letztendlich Selbstlüge. Ein gemütliches Leben in einer italienischen Kleinstadt, Frieden und Erfüllung vor vietnamesischen Streetfoodständen oder endlich das Glück in kubanisch-sozialistischer Einfachheit zu finden – es bleiben fremdprojizierte Träume, die immer die Zwänge in der Fremde vergessen. Doch überall muss der Lebensunterhalt bestritten werden, und spätestens mit regelmäßiger Lohnarbeit schleicht sich der selbe Alltag wieder ein und färbt die „neue“ Lebenswelt ins gewohnte Grau.

Genauso tragen Billigflüge um die ganze Welt schließlich bei zum kleinbürgerlichen Imperialismus, dessen Tourist_innenenströme die sich darauf einstellenden Kulturen an die eigenen Bedürfnisse und Wünsche angleichen. Natürlich mag man die Fremde und dessen fremde Menschen begaffen, aber um Gottes Willen, bitte keinen Kulturschock provozieren… Sogar am Ziel der Reise will man den Start eigentlich nicht loslassen. Die globale Hegemonie des Westens etabliert sich so nicht ausschließlich auf rein wirtschaftlicher Ebene. Schlussendlich kommt es zur Kulturverschiebung: Der Westen übernimmt, besetzt die Welt, „das Wilde“ wird eingesperrt in die Käfige der Tourismusbranche. Die Einheimischen werden nicht interessiert, sondern überlegen begafft. So werden sie von der Zahlkraft der Gaffer_innen auch ökonomisch abhängig. Hat sich der Tourismus einmal so festgesetzt, stellt sich die örtliche Wirtschaft völlig darauf ein und es wird zur mittelschweren Katastrophe, bleibt jene_r einmal aus, wie es sich während der Covid-Pandemie zuletzt zeigte. Um die 70% der internationalen Ankünfte gingen zurück, was vor allem die stark vom Tourismus abhängigen Länder vor eine große Herausforderung stellte.

Auch im Inland macht die Überheblichkeit der Eigen- vor der Fremdgruppe nicht halt. Kleine Tagesausflüge oder Kurzurlaube im eigenen Land, um die Errungenschaften seiner Mit-Deutschen zu bewundern, bleiben bei herablassend-belustigenden bis neidvollen Blicken, und schließlich bleibt der Austausch bei einer Verteidigung des ‚Daheim ist es doch immer noch am schönsten‘-Mantras. Gleichzeitig wird auch hier Lebensqualität für Profit dezimiert. Wo Gentrifizierung schon ein Übel ist, ist die Tourismusbranche nicht weit und trägt ebenso zur Verdrängung bei. Wohnraum wird unter der Schirmherrschaft des freien Marktes zu Ferienwohnraum, der noch einmal mit höheren Mieten ausschließlich an Tourist_innen vermietet wird. Mit AirBnB hat dieser Markt noch viel größere Profite generieren können und reserviert dringend notwendigen Wohnungen in Großstädten für Tourist_innen. Von dort aus werden die Städte dann überlaufen und niedergetrampelt, bis die abgeschliffenen Ecken und Kanten überall gleich glänzen und sich die ‚beschauliche Altstadt‘ nicht mehr von der Einkaufsmeile moderner Großstädte unterscheidet. Das Entscheidende ist: Es soll nicht nur viel konsumiert werden – Reisen als Hobby wird leicht verdauliches Konsumgut.

Konsumiert werden dabei Orte, die schließlich auf To-Do-Listen abgehakt werden. Werden schöne Ansichtskarten oder Urlaubsfotos als spaßige Erinnerungen präsentiert, dürfen sich auch andere neidvoll an der Glorie der mitgebrachten Erlebnisse ergötzen und sich angestachelt fühlen, zu ihrem eigenen Feldzug aufzubrechen. Das Aufzählen der Errungenschaften des sich selbst verschriebenen Kosmopolitismus durch rastloses Welterobern, das nicht nur keine Zeit lässt für sinnliche Erfahrung, misst zugleich das Ausmaß der bürgerlichen Borniertheit. Von der noblen Absicht des Bildens und Erfahrens bleibt so nichts mehr übrig.

So ist das in manchen Gegenden aufkommende Ressentiment gegen die Touristen nicht nur mehr als verständlich: Doch leider bleibt es im Protest meist bei zurückhaltendem Gebaren und einer handvoll Graffiti. Dabei kann man Tourist_innen nicht genug Hass entgegenbringen – bevor, und auch nachdem die eigene Wirtschaft, damit vielleicht auch das eigene Überleben von ihnen abhängig geworden ist. Sie verdienen dieselbe Abneigung wie jede_r Chef_in oder Polizist_in die_der eine_n unter die fremde Knute zwingt. Dass diese Abneigung richtig und wichtig wäre, wird auch nicht dadurch geschmälert, dass es wohl ein Kampf gegen Windmühlen bleiben wird. Politisch wird sich nichts tun. Wenn es ökonomisch nützt, wird des Tourismus unaufhaltsam als durchweg positiv gefördert. Von Landes- bis auf Kommunalebene ist man sich hierin also einig und wiederholt phrasenhaft: Es hilft der Wirtschaft und damit dem Land sowie der Kommune.

Am Ende glauben die Reisenden schließlich selbst an ihren Erfahrungsreichtum und ihre Reife, die ihnen gesellschaftlich zugesprochen wird. Das ist eine Vorstellung, die sich durch die Ideengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft zieht – von der Odysee über Alexander von Humboldt bis zu jedem Abiturienten aus reichem Elternhaus. Reste dieser Vorstellung bleiben am Mythos Reise weiterhin haften, und alle, die sich heute auf selbige begeben, rechnet man einmal mehr zu, den Strapazen der Heimat standhaft zu trotzen.

Und auch steigende Flugpreise oder Bedenken bezüglich des Klimaschutzes halten die Reiselustigen nicht ab: Der weltweite Flugverkehr ist laut Daten der International Air Transport Association jetzt schon fast wieder auf Vor-Pandemieniveau. Das Luftfahrt-Tracking-Unternehmen Flightradar24 berichtet von einem Rekord an kommerziellen Flügen seit Erhebung der Daten im Jahr 2006. Influencer_innen tragen zum Hype bei. Als personifizierte Werbebanner propagieren sie nicht nur Produkte, sondern auch einen lifestyle. Dort scheint sich alle Mühsal in der Fremde aufzulösen, die selbst im kleinen italienischen Bergdorf noch luxuriös daherkommt und alle wertvolle Erfahrung, die auf solch entfremdeter Ebene kaum noch erreichbar ist, wird in überspitzter cuteness und Niedlichkeit verdinglicht. Dem schließen sich für die letzten echten Abenteurer_innen des Urlaubs hemdsärmlige Bürgerkinder an. Nach dem Abitur mit 10€ und einem Unterhemd über den Globus gereist, verkaufen sie ihre Erlebnisse zum Nachahmen in Form von Reiseberichten und unterrichten in Insta-Postings. Da stellt sich so mancher Person vielleicht die Frage: Wozu auch die Welt erblicken, wenn man sie in Häppchenform serviert bekommt?