Our Share of The Weird and The Eerie – HuCH#96

| von Ronja Arndt |

Wer sich aus einer linken Perspektive mit Popkultur, insbesondere dem Horror-Genre beschäftigt, kann sich auf Mark Fishers theoretische Konzepte verlassen. Das neuste Buch der argentinischen Autorin Mariana Enríquez lädt dazu ein, diese Konzepte hervorzuholen.

Bild: Mariana Enríques

„The allure that the weird and the eerie possess is not captured by the idea that we ‚enjoy what scares us‘. It has, rather, to do with a fascination for the outside, for that which lies beyond standard perception, cognition and experience.“1

Verschiedene Formen des Horros, von Videospielen und TV-Serien wie The Last Of Us über bekannte Filme wie The Shining bis hin zu den Büchern H.P. Lovecrafts, üben eine unheimliche Faszination auf Menschen aus. Unheimlich meint an dieser Stelle sowohl ein Unheimliches im Sinne der Intensität der Faszination, die sich beispielsweise an den ausschweifenden literarischen und filmischen, aber auch musikalischen Inszenierungen des Unheimlichen (the uncanny) erkennen lässt, als auch ein Unheimliches im Sinne Sigmund Freuds: Unheimlich, das ist das Unbekannte im Vertrauten, es ist jenes, was nicht in das gewohnte Bild eingeordnet werden kann2. Es ist jenes, was wir im uns bekannten Raum nicht festmachen können, während uns alles darum herum so geläufig erscheint.

Die Zusammenhänge zwischen dem Unheimlichen und Räumlichkeit sind dabei natürlich vielschichtig. Während Freud das Unheimliche in dem uns Bekannten verortet, legt Fisher den Fokus auf ein unbekanntes Außen, das in unsere Realität eindringt. Wie Fisher im eingangs verwendeten Zitat hervorhebt, ist unser Interesse am Unheimlichen durch seine Lokalisierung außerhalb unserer Normalität gegeben. Ihren Horror erlangen sowohl das Seltsame (the weird) als auch das Gespenstische (the eerie) durch ihr Existieren im Außen. Das Seltsame besteht in der Verbindung des Vertrauten mit jenem, was dort nicht zu sein hat. Erkennbar wird dies im Moment der Montage von zwei Dingen, welche nicht zusammengehören. Das, was nicht zugehörig ist, dringt von außen in das Familiäre hinein, wie es in den Werken H.P. Lovecrafts der Fall ist. Fisher arbeitet heraus, wie das Seltsame in Form von erdachten Monstern über unsere Welt hereinbricht und die vertrauten Räumlichkeiten in Frage stellt. Denn durch den Kontakt mit dem Unheimlichen, ob es nun das Seltsame oder das Gespenstische sein mag, erlangen wir einen neuen Blick auf das uns Vertraute durch das Ins-Verhältnis-Setzen mit dem Unbekannten, von außerhalb Kommenden.

Auch das Gespenstische ist mit dem Außen verbunden. Im Unterschied zum Seltsamen jedoch handelt das Gespenstische vielmehr vom Versagen von An-/Abwesenheit (failure of presence/absence). Das Versagen von Abwesenheit verdeutlicht Fisher mit dem Beispiel des Schreis eines Vogels, der die hörende Person spüren lässt, dass mehr hinter dem Schrei steht als der gewöhnliche Schrei eines Vogels. Dagegen zeigt sich das Versagen von Anwesenheit, wenn etwas fehlt, was eigentlich Teil des Vertrauten sein sollte. Dieses Fehlen wird begleitet von der Frage danach, was es denn ist, das fehlt. In jedem Falle des Versagens steht die Frage nach Handlungsfähigkeit (agency) im Zentrum: Das Versagen der Abwesenheit wirft die Frage auf, ob es überhaupt eine Handlungsfähigkeit gibt, während dies beim Versagen der Anwesenheit bereits geklärt ist, jedoch weiterhin unsicher bleibt, welche Absicht hinter der Handlung steht. 

In seinem Buch The Weird And The Eerie weist Mark Fisher beide Erscheinungen anhand zahlreicher popkultureller Erzeugnisse nach und verschafft damit theoretisch geschärfte Einblicke in verschiedene literarische, musikalische und filmische Produkte der Kulturindustrie. Sein Ansatz bietet Möglichkeiten, das Unheimliche an einem anderen Ort weiterzuverfolgen. Jenseits von den bekannten, vor allem westlichen Werken des Horrors von Lovecraft über Daphne du Maurier bis hin zu David Lynch oder auch Stephen King, entwickelt sich eine eigene Tradition des Schreibens zum Unheimlichen in Argentinien. So sind zum Beispiel Agustina Bazterrica und Samanta Schweblin Namen, die aus diesem Kontext nicht mehr wegzudenken sind. Beiden Autorinnen gelingt es, Horror als Spiegel(-ung) der politischen Situation in Argentinien zu zeichnen, ohne dabei in plumpe, überholte Stereotype zu verfallen. Stattdessen schaffen sie es, eine differenzierte und vor allem auch feministische Analyse vorzulegen. Insbesondere Mariana Enríquez stellt dabei bekannte Horrorliteratur in den Schatten: ihre Bücher zeichnen sich nicht nur durch ein präzises Einfangen des politischen Geschehens aus, sondern sie schafft es, die Grenzen des Genres zu überschreiten.

Immer wieder nennt Enríquez Stephen King als einen der großen Einflüsse auf ihr Schreiben: „Everything I learned about blending reality and horror, I learned from Stephen King.“3 Ähnlich wie King erschafft Enríquez Geschichten, welche im alltäglichen Leben angesiedelt sind und dabei mit dem Unheimlichen verschwimmen. Während King jedoch ohne Zweifel auf verschiedenen Ebenen zu kritisieren ist, beispielsweise für den seinen Geschichten inhärenten Sexismus sowie Rassismus, bietet Enríquez einen Ansatz, der bestehende Machtverhältnisse deutlich kritisiert, – und zeigt dabei das Potenzial zeitgenössischer Horrorliteratur auf. Diese Schlagkraft wird deutlich, wenn wir Fischers Theorien des Unheimlichen, Seltsamen und Gespenstischen auf Enríquez Werke übertragen. Lediglich zu erwähnen, dass ihr neu erschienener Roman Our Share Of Night unter anderem zu Zeiten der letzten Diktatur Argentiniens spielt, würde nur an der Oberfläche kratzen. Mit Fishers kritischer Theorie wird deutlich, weshalb Enríquez eine derart revolutionäre Rolle im Horrorgenre einnimmt.

Auf den ersten Blick scheint es, als wäre es das Seltsame, das Enríquez unheimliche Erzählungen prägt – die Präsenz von etwas unbekanntem, monströsem an vertrauten Orten. Der Roman Our Share Of Night wird bevölkert von Geistern, Wiedergängern und Dämonen und man könnte geneigt sein, an diesem Punkt stehen zu bleiben und Enríquez auf eine gelungene Präsentation des Seltsamen mit einem Schwerpunkt in lokalen Mythen und Legenden zu reduzieren. Ebenso würde die Lovecraft’sche Schilderung eines ominösen Kultes zunächst zu dieser Interpretation passen. Es sind jedoch nicht einfach die Monster, die von außen in das uns Vertraute eindringen. Enriquez schafft gerade in diesem Roman viel mehr.

Wir folgen der Geschichte eines Vaters und Sohnes, Juan und Gaspar, beide Medien4 mit Verbindung zur einer anderen Welt, über einen Zeitraum von grob zwanzig Jahren – in der Zeit der argentinischen Diktatur von 1976 bis 1983. In einem Text zum Unheimlichen und auf einen Roman E.T.A. Hoffmanns verweisend bemerkte Sigmund Freud einst treffend: „Der Inhalt des Romans ist zu reichhaltig und verschlungen, als daß man einen Auszug daraus wagen könnte.“5 Ebenso verhält es sich mit Enríquez Roman. Es ist nun nicht das Seltsame, was Enríquez Erschaffung des Unheimlichen kennzeichnet. Vielmehr ist dafür zu plädieren, das Gespenstische als zentrales Motiv zu verstehen. Hierfür ist ein (zumindest rudimentäres) Verständnis argentinischer Geschichte notwendig und Enríquez wäre nicht Enríquez, wenn sie es nicht schaffen würde, den Lesenden dieses zusammen mit ihrer eigentlichen Erzählung an die Hand zu geben. Sie selbst sagt dazu: „I try to be near the reader, near the media: if I have to give you a history lesson, it’s not a problem.“6Und diese Geschichtsstunde findet nicht nur im wörtlichen, sondern auch übertragenen Sinne statt. 

Während Enríquez im Verlaufe des Romans immer wieder den Einfluss der Diktatur auf den Alltag schildert, wird für die Lesenden deutlich, weshalb diese Zeit oft als die schlimmste Epoche der argentinischen Geschichte beschrieben wird. Es stechen insbesondere die Geschichten der zahlreichen unter der Diktatur Verschwundenen hervor. Es ist unerlässlich, diesen Teil der argentinischen Geschichte auszuführen, um die Militärdiktatur für Lesende greifbar zu machen. Bereits die argentinische Redewendung ‚Sie wurden verschwunden‘ reißt den brutalen Charakter dieser Geschehnisse an. Enríquez skizziert die Bestialität mit den Handlungsstrang eines geheimen, Lovecraft’schen Ordens, welcher Personen verschwinden lässt und grausam zurichtet. Diese Parallele ermöglicht es, die Gewalt der Diktatur aufzuzeigen, und ermöglicht zugleich Enríquez Kunstgriff: Beinahe beiläufig begegnen wir den Verschwundenen der Diktatur im Verlauf der Geschichte und beobachten sie als Geister im Aufeinandertreffen mit Juan und Gaspar. 

Das Versagen ihrer Anwesenheit im realen Sinne stellt die Frage nach der Absicht hinter der Handlung, eine Frage nach Sinn und Zweck des Terrors – die unbeantwortet bleiben muss und damit das Unheimliche noch verstärkt. Das Versagen in der Anwesenheit als Geister wiederum stellt die Frage nach der Handlungsfähigkeit an sich, die Frage danach, was Menschen während einer grausamen Diktatur zu tun übrig bleibt. Die Vermischung von Horror und realer Geschichte ermöglicht es Enríquez, den Schrecken menschlicher Existenz nachzuspüren. Durch ihre Beschreibung des geheimen Ordens und seinen grausamen Methoden, sowie seinem Einfluss auf jeden einzelnen Lebensbereich seiner Mitglieder, wird das allumfassende Moment der Diktatur für Lesende spürbar. Das Außen dringt auf mehrerlei Art in das Familiäre ein und wird unheimlich, also zum Gegenteil des heimlichen Zuhauses – wie bereits Freud erklärte. Gerade in dieser Verbindung liegt die unfassbare Stärke Enríquez: Ihre Anwendung des Gespenstischen wird in exzellenter Horrormanier ausgeführt und gleichzeitig auf eine politische Ebene gehoben. Damit beweist sie, welches Potenzial im Horrorgenre für eine linke Kritik der herrschenden Verhältnisse liegt.

Es wäre zu schön, wenn noch die Möglichkeit bestünde, auf ein Gespräch zwischen Mark Fisher und Mariana Enríquez zu allerlei unheimlichen Dingen zu hoffen. So bleibt es an der Stelle nur bei der Spekulation, wie ein solches Aufeinandertreffen hätte aussehen können. Bereits hieran werden nicht nur die individuellen Stärken beider Autor_innen in ihren Analysen deutlich, sondern auch die Möglichkeiten eines Genres wie dem Horror hinsichtlich einer politischen Perspektive: Die Verblendung von Realität und Fiktion ermöglichen tiefgehende Analysen der real existierenden Grausamkeiten und finden Worte, wofür es keine Worte gibt.

1Mark Fisher (2016): The Weird And The Eerie. Repeater, S. 8.

2Vgl. dazu: Sigmund Freud (2020): Das Unheimliche. Reclam.

3Mariana Enríquez, Anthony Cummins: I don’t want to be complicit in any kind of silence. 01.10.2022. Online unter:https://www.theguardian.com/books/2022/oct/01/mariana-enriquez-our-share-of-night-i-dont-want-to-be-complicit-in-any-kind-of-silence[Letzter Zugriff:13.03.2023]

4In diesem Kontext bezieht sich ‚Medium/Medien‘ sich auf Personen, welche Verbindungen zu übernatürlichen Kontexten haben.

5Freud (2020: o.S.)

6Enríquez, Cummings (2022).