Der Zyklus der Abwertung – HUch#94

| Moritz Aschemeyer |

Immer mehr Beschäftigte werden durch Algorithmen bei der Arbeit getrackt und kontrolliert. Über die politökonomischen Ursachen dieses Trends, die Auswirkungen auf den Arbeitsprozess und neue Möglichkeiten und Ressourcen des organisierten Widerstands sprach die HUch mit dem Soziologen Simon Schaupp.

Bild: Felix Deiters

Interview mit Simon Schaupp

Wenn man als Laie an algorithmische Arbeitssteuerung denkt, hat man vielleicht das Bild von Fahrradkurier_innen im Kopf, die per Handy Anweisungen bekommen. Was verstehen Sie unter dem Begriff und in welchen Branchen tritt algorithmische Arbeitssteuerung vor allem auf?

Algorithmische Arbeitssteuerung bezeichnet den Fall, in dem Menschen bei der Arbeit Anweisungen von einer Software bekommen und von dieser anstatt von Menschen kontrolliert werden. Dieser Arbeitsprozess wird sehr stark mit der Plattformarbeit1 assoziiert, doch das ist falsch. Weder kommt er von dort noch wird er nur dort angewandt. In der Industrie und Logistik wird schon recht lange mit digital gesteuerten Arbeitsprozessen gearbeitet. Eine repräsentative Umfrage vom DGB-Index „Gute Arbeit“ hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland mit digital gesteuerten Prozessen arbeitet. Das Ausmaß davon ist unterschiedlich. Ich habe Beschäftigte in der manuellen Arbeit untersucht, die ausschließlich mit solchen Prozessen kontrolliert werden. Neben den Kurierdiensten ist etwa die Arbeit im Online-Versandhandel in den Warenlagern ein weiteres Beispiel. Das ist technisch recht simpel. Die Beschäftigten erhalten Handscanner, die anzeigen, wohin sie gehen und was sie aufheben müssen. In der Montage ist das typischerweise so, dass man ein Display vor sich hat, auf dem Bilder oder Texte mit detaillierten Arbeitsanweisungen angezeigt werden. Die zweite Gemeinsamkeit neben den Anweisungen ist das Tracking der Arbeit. Bei den Kurieren oder in den Warenlagern geschieht das durch GPS-Lokalisierung und bei den Werkerleitsystemen im Industriebereich zum Beispiel dadurch, dass die Zehntelsekunden zwischen den einzelnen Arbeitsschritten jeweils gestoppt werden, um so genau eruieren zu können, wo Arbeiter_innen Verzögerungen haben und Arbeit verdichtet werden kann.

Woran liegt es, dass die algorithmische Arbeitssteuerung attraktiv geworden ist?

Makroökonomisch lässt sich seit Mitte der 1970er-Jahre ein Absinken der Investitionsquoten in die Produktion beobachten. Profite aus der Produktion werden weniger in sogenanntes produktives Kapital reinvestiert, also beispielsweise Maschinen, sondern tendenziell eher auf Finanzmärkte verschoben, weil das Kapital dort weniger fixiert und teilweise auch profitabler angelegt ist. Das liegt daran, dass es auch bei hohen Profiten ein Risiko darstellt, Produkte überhaupt verkaufen zu können. Das ist eine krisenhafte Entwicklung, weil die kapitalistische Produktion rationalisiert werden muss und nicht stationär bleiben kann. Deswegen wird viel darüber diskutiert, dass die Arbeitsproduktivität nicht mehr so steigt wie früher. Das sind alles Anzeichen dafür, dass es entgegen dem Hype wenig Investitionen in Automatisierung und Robotik gibt. Der Hype geht von dem aus, was technisch möglich ist. Das ist aber ökonomisch nicht attraktiv, insbesondere nicht in Deutschland, weil es hier einen sehr großen Niedriglohnsektor gibt. Daher gibt es die Tendenz der Einbindung von Niedriglohnarbeit in diesen Bereichen: der sogenannten Einfacharbeit, insbesondere der manuellen Arbeit. Das geht durch algorithmische Arbeitssteuerung sehr gut. Man kann Leute fernsteuern und muss dafür nicht am selben Ort sein. Man kann sprachlich konfigurierbare Systeme einrichten und einsetzen, sodass die Beschäftigten nicht einmal mehr die lokale Sprache sprechen müssen. Zudem ist es interessant, dass genau die Branchen, die als Hightech-Branchen gelten, dezidiert Geschäftsmodelle entwickeln, die viel menschliche Arbeit benötigen. Im Online-Versandhandel oder bei Essenslieferdiensten gibt es in Bezug auf Produktivität – also dem notwendigen Arbeitsinput im Vergleich zum Output – einen extremen Rückschritt. Es ist völlig falsch davon auszugehen, dass dabei die Produktivkräfte auf besondere Weise entwickelt würden. Vielmehr geht es lediglich um die Absorption von viel menschlicher Arbeit.

Was folgt aus dieser ökonomischen Situation für die Beschäftigten in diesen Branchen?

Ich verwende hierfür den Begriff der kybernetischen2 Proletarisierung, der sich von einem Szenario der technologischen Arbeitslosigkeit abgrenzt. Denn die Leute werden nicht arbeitslos, sondern müssen in sehr schlechten Arbeitsverhältnissen arbeiten. Das folgt einem Zyklus, in dem verschiedene Abwertungsmechanismen aufeinander folgen. Zunächst wird die Arbeit dadurch dequalifiziert, dass man detaillierte Anweisungen gibt. Damit fällt das Niveau der Ausbildung, was die Lohnkosten drückt und den flexiblen Einsatz der Arbeitskräfte ermöglicht. Wenn die Arbeitskräfte nicht eingearbeitet werden müssen, ist es viel attraktiver für Unternehmen, eine Politik des Anheuerns und Feuerns zu betreiben oder Beschäftigte zwischen verschiedenen Arbeitsstationen zu verschieben. Die zweite Stufe ist eine Arbeitsverdichtung, in der diese dequalifizierten Arbeitsprozesse nochmal intensiv getrackt werden und sogenannte Totzeiten wie Pausen oder Standzeiten erkannt werden. Das Ziel hierbei ist, dass mehr Arbeit in derselben Zeit verausgabt wird, was wiederum auch eine Form der Verdrängung menschlicher Arbeit aus dem Produktionsprozess darstellt. Und der dritte Schritt – wenngleich dieser am seltensten vorkommt – ist, dass auf Basis der Daten aus dem menschlichen Arbeitsprozess automatische Systeme programmiert werden. Ein Beispiel hierfür wäre, dass die Daten von Intralogistikern3 benutzt werden, um fahrerlose Transportsysteme zu entwickeln. Diese drei Faktoren stellen eine qualitative und quantitative Verdrängung menschlicher Arbeit dar. Diese führt nicht dazu, dass alles automatisiert wird, sondern dazu, dass ein neuer Zyklus beginnt und noch mehr menschliche Arbeitskraft integriert wird, jedoch in abgewerteter Form. Das ist die objektive Seite der kybernetischen Proletarisierung. Auf der subjektiven Seite zeigt sich, dass sich unter den betroffenen Beschäftigten innerhalb der Unternehmen eine Art proletarischer Subkultur herausgebildet hat, die sich stark von anderen Tätigkeiten im Unternehmen abgrenzt, insbesondere vom Management.

Und wie ergeht es in diesem Prozess dem Management?

Das Ziel dieser Systeme ist, dass die Manager_innen oder Teamleiter_innen durch eine Software ersetzt werden. In dem Bereich fallen die Jobs auch weg und das führt dann dazu, dass sie entweder proletarisiert werden und nach unten in die Ausführung rutschen oder aber in die andere Richtung oben ins strategische Management aufsteigen. Insofern korrespondiert das mit Polarisierungstendenzen, die sich auf dem gesamten Arbeitsmarkt zeigen.

Wie sieht der Widerstand seitens der Beschäftigten aus und welche Machtressourcen stehen dabei zur Verfügung?

Es gibt einen sehr stark angekurbelten Diskurs darüber, dass diese Form der Arbeit überwacht und atomisiert sei und Arbeiter_innen deshalb dort nicht organisiert werden können. Das ist falsch, denn in diesem Bereich gibt es mehr Arbeitskämpfe. Ein Kollege von mir hat für England berechnet, dass in der digitalen Lieferbranche über 60 Prozent mehr Arbeitstage im Jahr an Streiks verloren gehen als im Rest der Ökonomie. Die Abwertung ist ein konflikthafter Prozess. Wenn die Beschäftigten merken, dass ihre Arbeitsbedingungen schlechter werden, steigt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten, was selbst schon eine Machtressource für die Organisierung sein kann. In der Alltagspraxis zeigt sich, dass diese Systeme manches besser überwachen können als menschliche Vorgesetzte, anderes hingegen gar nicht. In der Fabrik, in der ich gearbeitet habe, wurde ein Teamleiter durch ein Arbeitsleitsystem ersetzt. Das konnte tracken, wie schnell ich arbeite, aber es konnte nicht feststellen, ob ich mit meinem Sitznachbar quatsche, was davor verboten war. Dadurch konnten wir uns intensiv über Probleme austauschen. Bei den Fahrradkurieren ist das viel extremer, weil die gar keinen gemeinsamen Arbeitsort mit dem Management haben und es deswegen weder Einbindung in Unternehmensideologie noch persönliche Kontrolle gibt. Deswegen ist die Organisierung diesbezüglich viel einfacher als in anderen Unternehmen, weil man die Arbeitszeit selbst nutzen kann, um Betriebsgruppen zu gründen oder Betriebsräte vorzubereiten. Eine andere Machtressource ist die Verwundbarkeit von digitalen Infrastrukturen selbst. Die Beschäftigten können die meisten digitalen Technologien manipulieren oder umgehen. Mit der Folge, dass ganze Technologien dann doch nicht implementiert werden. Auf größerer Ebene, etwa in der Industrie, lässt sich in der digitalen Rationalisierung von Lieferketten durch Streiks und Produktionsstörungen viel stärkerer Druck ausüben, da die Lieferketten stark integriert sind. Wenn irgendwo gestreikt wird, steht dann nicht nur eine Fabrik, sondern ein ganzer Sektor still. Ein Problem ist dabei die Ersetzbarkeit von Arbeiter_innen. Das hat man beim Gorillas-Streik letztes Jahr gesehen, als das Unternehmen die Konsequenz gezogen hat, hunderte Beschäftigte auf einmal zu entlassen, was sich ein normales Unternehmen aufgrund der extremen Suchkosten für Neueinstellungen nicht leisten könnte. Insbesondere in der Industrie ist es außerdem so, dass die Gewerkschaften sich auch selbst für die Digitalisierung einsetzen. Dann kommt es zu einem Technokorporatismus4, bei dem ein Digitalisierungskonsens zwischen Arbeitgeber_innen und Gewerkschaften herrscht und die Gewerkschaften sich auch ganz konkret an der Implementierung von algorithmischer Arbeitssteuerung beteiligen.

Wie verkaufen die Gewerkschaften oder Betriebsrät_innen das an die Basis?

Betriebsrät_innen sind ja einerseits auf den Betriebsfrieden verpflichtet, können also nicht zum Streik aufrufen, sondern sind Akteur_innen im Betrieb und deswegen auch darauf verpflichtet, sich nicht prinzipiell der Rationalisierung zu versperren. Neben der Arbeitsplatzsicherheit kommen auch Argumente der verbesserten Ergonomie durch technologische Aufwertung der Infrastruktur zum Einsatz.

Gibt es denn auch Aspekte, die für die Interessen der Beschäftigten positive Elemente beinhalten?

Ein wichtiger Punkt ist eine Art Quantifizierung von unten. Wenn die Belegschaft die erhobenen Daten miteinander teilt, kann man den Vorgesetzten gegenüber darauf hinwirken, dass Beschäftigte nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das wird auch international gemacht, etwa bei dem Onlineversandhändler, den ich untersucht habe.

Was sind für Sie neben dem Datenbesitz noch zentrale aktuelle oder potenzielle Konfliktfelder, die sich mit algorithmischen Arbeitssteuerungssystemen verbinden?

Arbeitszeit ist ein zentraler Punkt. Die Kontrolllogik, die mit der algorithmischen Arbeitssteuerung einhergeht, ist meistens ein kybernetisches Kontrollmodell, wo die Arbeiter_innen Feedback zu ihrer Tätigkeit bekommen und dieses dann optimieren sollen. Hier handelt es sich also nicht um die klassische, repressionsbasierte Überwachung, sondern die kybernetische Kontrolle führt zu einer Arbeitsverdichtung, worunter die Beschäftigten leiden. In allen Bereichen, die ich untersucht habe, waren die Beschäftigten häufig gestresst, konnten weniger schlafen oder wurden krank. Diesen Gesundheitsaspekt gilt es zu politisieren. In einem Projekt, das ich begleitet habe, wurde beispielsweise erkämpft, dass man zusätzliche Urlaubstage als Ausgleich für die Einführung von so einem Arbeitsverdichtungsprogramm bekommt. Auf der Makroebene ist es wichtig zu ergänzen, dass natürlich auch die Entwicklung dieser Technologie ein politisches Feld ist, das viel zu wenig politisiert wird. Viele Technologien werden mit Staatsgeldern entwickelt. Insbesondere in Deutschland sind die Fraunhofer-Institute ganz vorne mit dabei. Aus linker Perspektive wäre es wichtig zu fordern, dass diese Förderung demokratisiert wird und nur Technologieentwicklung gefördert wird, die soziale und ökologische Ziele befördert und nicht unterminiert.

Sehen Sie auch Potenziale, dass das kybernetische Proletariat versucht, sich über Branchen hinweg zu organisieren?

Bei der Gruppe von Beschäftigten, die ich untersucht habe, ließ sich eine sehr starke internationale Vernetzung beobachten. Darin liegt meines Erachtens auch ein zentraler emanzipatorischer Aspekt dieser Arbeitskämpfe, da ihr Inhalt nicht ist, dass eine Verbesserung auf Kosten anderer gefordert wird. Stattdessen geht es darum, gemeinsam – zwar meist innerhalb eines Unternehmens, aber an verschiedenen Standorten – Streikaktivitäten zu synchronisieren und Forderungen zu stellen. Meine These ist, dass das deshalb möglich ist, weil sich die Arbeitserfahrungen angleichen. Solidarität fällt nicht vom Himmel, sondern geschieht, wenn man sich mit anderen Leuten identifizieren kann. Und wenn sich die Arbeitsprozesse von Leuten an verschiedenen Enden der Welt gleichen, dann fällt das viel leichter. Das geht über einzelne Unternehmen hinaus, weil selbst in sehr unterschiedlichen Branchen die zentrale Arbeitserfahrung nicht mehr darüber definiert wird, was konkret produziert wird, sondern durch das Abarbeiten algorithmischer Anweisungen. Das könnte auch die Basis von weitergehender Solidarisierung über die Grenzen einzelner Konzerne hinweg bilden.

Simon Schaupp ist Soziologe und lehrt an der Universität Basel. Er forscht unter anderem zur Transformation der Arbeitswelt, zur Digitalisierung und zur ökologischen Krise. Seine Dissertation Technopolitik von unten erschien 2021 bei Matthes und Seitz und befasst sich mit der algorithmischen Arbeitssteuerung, den Folgen für die Beschäftigten und Widerstandspraktiken.

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1 Plattformarbeit beschreibt Tätigkeiten, die über Onlineplattformen oder Apps vermittelt werden (v.A. Dienstleistungen wie z.B. Reinigung, Lieferungen oder Personentransport) oder gänzlich auf diesen stattfinden (Cloudwork, z.B. Designarbeiten oder auch bezahlte Rezensionen).

2 Der Begriff Kybernetik beschreibt die Wissenschaft von sich selbst steuernden maschinellen Systemen in Analogie zu lebendigen Organismen. Im Kontext der Arbeitssoziologie sind hiermit häufig Systeme maschinellen Feedbacks gemeint, die Informationen aus der Arbeit ins System speisen und den Beschäftigten zurückspielen, woraufhin diese die Arbeit nach diesem Feedback ausrichten.

3 Intralogistik beschreibt logistische Prozesse innerhalb eines Betriebsgeländes, z.B. einem Warenlager.

4 Korporatismus beschreibt die Einbindung organisierter Interessen in politische Strategien und Entscheidungen. Ein Beispiel hierfür ist das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft, das auf einer eingehegten institutionalisierten Austragung von Interessenskonflikten zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im nationalen Interesse basiert.