Don’t say the dirty word – HUch#94

| von Benjamin Körner |

Wer über Arbeit redet, sollte vom Kapitalismus nicht schweigen. Eigentlich eine banale Feststellung, jedoch stellt sich damit auch direkt die Frage, was uns der Bekannteste aller Kapitalismustheoretiker_innen, Karl Marx, heute zum Thema Arbeit noch zu sagen hat. Und so sind wir in nur drei Schritten vom Thema Arbeit zum Marxismus gekommen – und über den sollten wir an deutschen Universitäten drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion doch wirklich nicht mehr reden! Oder doch?

Bild: Felix Deiters

Arbeit als Grundlage jeder Gesellschaft

Aber bleiben wir zunächst beim Thema dieses Heftes: Arbeit. Für die marxistische Analyse des Kapitalismus ist Arbeit – genauer Lohnarbeit – eine zentrale Kategorie, um zu verstehen, wie die Ausbeutung der einen mit dem Reichtum der anderen zusammenhängt. Für Marx ist Arbeit jedoch weit mehr als nur ein Thema, das im Kapitalismus eine Rolle spielt. Arbeit ist für ihn etwas, das den Menschen in jeder bisher existierenden Gesellschaftsform zentral bestimmt. Nach Marx ist der Mensch zwingend darauf angewiesen zu arbeiten – also sich seine Umwelt zu Nutze zu machen, um seine Lebensbedürfnisse befriedigen zu können. Hinzu kommt, dass ein einzelner Mensch in der Regel allein nicht überleben kann, also auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen ist. Die Notwendigkeit zu arbeiten und zusammenzuarbeiten ist daher die Grundlage jeder Gesellschaft.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben sich Fähigkeiten und Arbeitsteilung immer weiterentwickelt – sodass auch die Strukturen, die regeln, wer welche Arbeiten machen muss und wer die Produkte dieser Arbeit erhält, komplexer geworden sind. So entstanden Gesellschaften, in der die eine Gruppe Menschen über die Arbeit der anderen Gruppe Menschen bestimmen konnte: Klassengesellschaften. Seitdem hat sich die Art und Weise, wie gearbeitet wird, zwar immer wieder verändert, verschiedene Klassen kämpften um die Vorherrschaft, manche verschwanden und neue entstanden, doch immer gab es eine Klasse, die über die Arbeit der anderen bestimmen konnte. Neben verschiedensten Klassen gab es so immer zwei Hauptklassen, also eine ausbeutende Klasse auf der einen und eine ausgebeutete Klasse auf der anderen Seite.

Kapitalismus: Freiheit oder Ausbeutung?

Im Kapitalismus besitzt die Kapitalist_innenklasse die Produktionsmittel, also zum Beispiel Fabriken, Büros und Patente, während die viel größere Klasse der Lohnabhängigen dazu gezwungen ist, ihre Arbeitskraft an diese Kapitalist_innen zu verkaufen. Ein schmieriger Jungliberaler könnte jetzt empört aufschreien: »Das ist doch ein freier Vertrag, niemand wird gezwungen! Außerdem bekommen die Angestellten ihren Lohn ausgezahlt!« Doch Marx hält die Lohnarbeit trotzdem für ein ausbeuterisches Zwangsverhältnis. Denn von einem freien Vertrag kann keine Rede sein, wenn für all diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen, die Alternative zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft das Verhungern ist. Damit wäre das Zwangsverhältnis erklärt, aber warum sollte Lohnarbeit automatisch Ausbeutung bedeuten? Für Marx ist Ausbeutung keine moralische, sondern eine ökonomische Kategorie, die schlicht feststellt: Profit für die Kapitalist_innen entsteht nur dann, wenn sie den Arbeiter_innen weniger Lohn zahlen, als diese an Wert mit ihrer Arbeit geschaffen haben. Die Klasse der Kapitalist_innen lebt also auf Kosten der Arbeiter_innen, indem sie sich immer einen Teil deren Arbeit aneignen. So funktioniert der Kapitalismus: Die einen müssen arbeiten und die anderen genießen die Früchte dieser fremden Arbeit.

»Marx ist tot und Jesus lebt!«

Der Marxismus ist also nicht nur als Analyse des Kapitalismus, sondern auch als wissenschaftliche Theorie darüber, wie verschiedenste Gesellschaften funktionieren, auch heute noch äußerst relevant. Wenn dem so ist, sollte marxistische Theorie an den Universitäten in allen Disziplinen, in denen es um gesellschaftliche Fragen geht, eine Rolle spielen. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse und Seminarpläne zeigt aber schnell, dass Marxismus dort nur selten bis gar nicht auftaucht. Woran liegt das? Sitzen überall die schon erwähnten schmierigen Jungliberalen, die sich mit ihrer Marktideologie gegen marxistische Wissenschaft sträuben?

Als 1989 CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm im staatssozialistischen Polen mit Oppositionellen gesprochen hatte, trat er vor die Presse und verkündete lauthals: »Marx ist tot und Jesus lebt!«1 Und tatsächlich verschwand in den 90er Jahren mit der Sowjetunion ebenfalls Marx von der Bildfläche linker Bewegungen und kritischer Wissenschaft. Nachdem durch den globalen Sieg des Kapitalismus angeblich das »Ende der Geschichte« erreicht worden war, wurden auch die Restbestände an marxistischer Theorie auf den Müllhaufen ebendieser geworfen. Wer es in der folgenden Hochzeit neoliberaler Ideologie überhaupt nur wagte, das Wort Kapitalismus in den Mund zu nehmen, wurde sofort als gestrig und verbohrt aus jeglichem Diskurs ausgeschlossen. Der Marxismus war die Todsünde und wer dazugehören wollte, musste sich von ihm distanzieren oder zumindest schweigen.

Ein Gespenst geht um…

Doch es kam alles ganz anders und die Geschichte wollte sich nicht an das ihr verordnete Ende halten. So sehr linke Kräfte in der Defensive waren und der Neoliberalismus alles infizierte, so sehr ging auch der Klassenkampf von den Ausbeutenden gegen die Lohnabhängigen weiter: Privatisierungen, Freihandelsdiktate, Lohndumping, Sozialabbau und die Entfesselung der Finanzmärkte sorgten dafür, dass die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher wurden. Trotz aller liberaler Ideologie und der Behauptung, es gäbe doch längst keine Klassen mehr, stellte sich Marx‘ Feststellung, dass die »Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen«2 ist, weiterhin als real heraus. Der Kapitalismus geriet in eine globale Krise und Streiks und Aufstände zeigten, dass das Ende der Geschichte noch lange nicht erreicht war. Mit dieser Zuspitzung von Klassenkämpfen und Krisen wurde auch wieder laut über den Kapitalismus gesprochen, der totgeglaubte Marx kehrte in die Debatten zurück und mit ihm auch ein Gespenst, das die Herrschenden schon für erledigt hielten: das Gespenst des Kommunismus.

Die Welt verstehen, um sie zu verändern

Durch die neoliberale Offensive der Kapitalist_innen kam es auch zur Wiederbelebung der klassenkämpferischen Linken. Die globale Krise des Kapitalismus setzte die Frage nach Alternativen auf die Tagesordnung. Aus Protesten und Bewegungen heraus wurde immer dringlicher die Notwendigkeit eines Systemwechsels formuliert. Was jahrelang als undenkbar galt, geschah: Es wurde wieder über Sozialismus und Kommunismus als gerechtere Gesellschaftsmodelle diskutiert. Die Erkenntnis, dass Reformen nicht ausreichen, um ein Wirtschaftssystem, in dem alles dem Profit einiger Weniger untergeordnet ist, gerecht und ökologisch verträglich zu machen, verbreitete sich. Doch der Marxismus bietet uns mehr als nur die Vision einer Gesellschaft, in der wir gemeinschaftlich produzieren und soziale und ökologische Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Marxistische Theorie erklärt, wie das bestehende System entstanden ist, wie es funktioniert, und gibt uns damit ein Instrument an die Hand, um eine Praxis zu entwickeln, die diese Verhältnisse verändert. Es geht also nicht darum, nur über eine weitere Theorie zu diskutieren, sondern um deren Anwendbarkeit, eine bessere Welt zu erkämpfen.

Im Hauptgebäude der Humboldt-Universität werden Besucher_innen von einem Marx-Zitat in goldenen Lettern begrüßt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber drauf an, sie zu verändern.«3 Dieses Überbleibsel aus DDR-Zeiten sollte im Zuge der Säuberung der Universitäten von marxistischem Denken Ende der 90er Jahre eigentlich entfernt werden – konnte aber durch den Protest kritischer Studierender erhalten werden. Das Zitat verweist darauf, dass der Sinn kritischer Wissenschaft nicht darin besteht, möglichst unverständlich formulierte Hausarbeiten, Paper und Dissertationen zu fabrizieren. Der Wert kritischer Wissenschaft misst sich daran, ob sie nützlich im Kampf für eine gerechtere Welt ist, ob sie denen, die tagtäglich den Klassenkampf gegen die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur führen, eine Hilfe ist.

Marx an der Uni: Zwischen Postmoderne und Endradikalisierung

Wenn auch eher als Randerscheinung, wird auch im akademischen Betrieb wieder über Marx gesprochen und publiziert. Vorherrschend sind jedoch »Marx«-Interpretationen, die sein Denken postmodern verdrehen oder den radikalen Teil des Marxismus ignorieren. Sich in diesem akademischen Sinn mit Marx zu beschäftigen, wird zur reinen intellektuellen Spielerei. In Seminaren wird über Details der Wertform diskutiert – aber über die Verbindung zum Klassenkampf kein Wort verloren. Über Kapitalismustheorien wird gefachsimpelt – aber darüber, dass Marx die Revolution für notwendig hält, um diesen zu stürzen, geschwiegen. Trotzdem kann es sich lohnen, diese akademischen Veranstaltungen zu nutzen, um mit marxistischer Theorie die Welt besser zu verstehen. Aber die Beschränktheit dieser »Marx«-Interpretationen sollte immer im Bewusstsein bleiben, um nicht bei einem halben Marx, also einer Analyse ohne folgende Praxis, stecken zu bleiben.

Dass an Universitäten meist der entradikalisierte Marx behandelt wird, hat systemische Ursachen, die wir mit der marxistischen Theorie selbst gut erklären können. Wie bereits beschrieben, bildet bei Marx die Art und Weise, wie Menschen produzieren, das Fundament jeder Gesellschaft. Auf dieser ökonomischen Basis entstehen dann ein politisches System und vorherrschende Ideen, deren Aufgabe es ist, Klassenherrschaft und Ausbeutung abzusichern. Im Kapitalismus ist das auf der einen Seite der bürgerliche Staat, der die Grundfesten des Kapitalismus nicht infrage stellt, und auf der anderen Seite die bürgerliche Ideologieproduktion, also die in alle Lebensbereiche hereingetragenen Ideen, die den Kapitalismus als sinnvoll und alternativlos darstellen. Diese Ideologie wird uns tagtäglich in Schulen, am Arbeitsplatz, in den Medien und nicht zuletzt an der Universität in die Gehirne gekloppt. Aufgabe der Universitäten ist es, diejenigen Menschen auszubilden, die diese Ideologie von Eigenverantwortung und Konkurrenz in unsere Köpfe tragen sollen. Vereinzelte Gesellschaftskritik an der Universität wird zwar geduldet, aber ein Raum für grundlegende Systemkritik oder radikale Politik können Universitäten nicht sein.

Um unsere Zukunft müssen wir kämpfen

Nach wie vor ist die marxistische Analyse relevant, wenn wir die Welt von heute verstehen wollen – und wir müssen sie verstehen, um sie verändern zu können. All diejenigen, denen Menschlichkeit und Solidarität am Herzen liegen, wissen, dass radikale Veränderungen bitter nötig sind. Wahr ist aber leider auch, dass diese Veränderungen ihren Anfang nicht in Hörsälen und Seminarräumen nehmen werden, sondern in Klassenkämpfen, in Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung rund um den Erdball. Wir leben in einer Welt, in welcher der Kapitalismus sich alles einverleibt und am Ende nur tote fruchtlose Wüste übriglässt. Ausbeutung und Armut sind allgegenwärtig, die Klimakatastrophe spitzt sich rasend zu und die Konfrontation imperialistischer Mächte führt zu neuen Kriegen.

Wollen wir als Menschheit eine Zukunft haben, darf der Kapitalismus keine haben. Wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem, eine sozialistische Gesellschaft, in der nicht die Profitinteressen weniger regieren, sondern die Bedürfnisse der Vielen. Eine klassenlose Welt, in der gemeinsam und solidarisch darüber entschieden wird, wie und was wir produzieren, in der nicht die Konkurrenz, sondern die Kooperation uns leitet. Diese Welt wird nicht vom Himmel fallen, sie wird uns nicht geschenkt werden, sie wird nur entstehen, wenn wir – die Klasse der Lohnabhängigen – uns zusammenschließen und die Herrschaft des Kapitals beenden. Wir haben eine Welt zu gewinnen!

Benjamin Körner ist Organizer und Teil des Kollektivs United for Fight, das Workshops und Seminare für Bewegungen, Gewerkschaften und politische Gruppen anbietet: www.unitedforfight.org

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1 Philipp Gessler : „Marx ist tot, Jesus lebt“ — „Die Wende war im Kern eine Gegenrevolution“, taz online, 09.11.1999, online unter: www.taz.de

2 Diese bekannt gewordene Formulierung ist der erste Satz des ersten Kapitels im Manifest der kommunistischen Partei, das von Karl Marx und Friedrich Engels im Dezember 1847/Januar 1848 verfasst wurde.

3 Ebenfalls zu finden in der Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe. Vierte Abteilung. Band 3. Berlin 1998, S. 21.