Das Märchen vom Sozialschmarotzer – HUch#94

| von Ainhoa Dávila Wiegers und Zora Günther |

Arbeitslosigkeit ist Teil des Kapitalismus. Trotzdem wird mit dem Anspruch auf Arbeitslosengeld Politik gemacht und Hartz IV als Machtinstrument benutzt, um ausgebeutete Arbeitende und Arbeitslose zu spalten.

Bild: Felix Deiters

Die Debatte um das Arbeitslosengeld II (kurz ALG II) ist seit einiger Zeit wieder in das Blickfeld deutscher Medien gerückt. Heiß diskutiert wird dabei vor allem das Versprechen der neuen Bundesregierung, ein sogenanntes Bürgergeld einzuführen. Dieses wird als die innovative soziale Lösung für ALG-II-Beziehende angepriesen – quasi als der neue Weg aus der Armut. Was bei diesem Lösungsansatz allerdings grundlegend fehlt, ist eine tiefer gehende Analyse und Kritik der Ursprünge von Arbeitslosigkeit und ein kritisches Hinterfragen der Funktion dieses Bürgergeldes – oder auch des ALG II. Oft werden arbeitslose Personen dabei selbst für ihre prekäre Situation verantwortlich gemacht: Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht genug anzustrengen und in der Arbeitswelt versagt zu haben. Besonders Personen, die ALG II beziehen, haben mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass sie doch nur faulenzen und sich der Gesellschaft gegenüber unsolidarisch verhalten würden. Zora kennt diese Stigmatisierungen aus ihrer eigenen Biografie und hat für diesen Artikel auch mit ihrem Vater über seine Erfahrungen als Langzeitarbeitsloser gesprochen. Seine Erfahrungen verdeutlichen ein systematisches Problem, welches auch schon Marx in seiner Analyse des Kapitalismus beschreibt. Wir stellen uns also die Frage, was ein Leben mit ALG II eigentlich bedeutet und aus welchem Grund Menschen, die es beziehen, an den Rand der Gesellschaft getrieben und degradiert werden. Dabei greifen wir auf marxistische Theorie und die Einschätzungen von Gewerkschaften zurück.

Eine Armee der Arbeitswilligen

In seinem Werk „Das Kapital“ aus dem Jahr 1867 argumentierte der Philosoph und Ökonom Karl Marx, dass das Hauptziel von kapitalistischen Unternehmen und ihrer Produktion die Profitmaximierung sei. Die Unternehmen versuchen also, so viel Gewinn zu schöpfen wie möglich, um immer weiter wachsen und mehr produzieren zu können. Diesen Prozess bezeichnet er als Akkumulation. Da alle Unternehmen zueinander in Konkurrenz stehen, versuchen sie einander in diesem Prozess der Akkumulation zu übertrumpfen. Arbeiter_innen sind darauf angewiesen, bei diesen Unternehmen angestellt zu werden, um sich über Wasser halten zu können. Zur Verfügung steht ihnen ausschließlich ihre Arbeitskraft, welche sie gegen Geld anbieten – damit sind Arbeiter_innen den Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nahezu ausgeliefert. Abgesichert sind sie nur durch staatliche Eingriffe, wie z.B. Gesetze, und die Arbeit von Betriebsräten und Gewerkschaften. Trotzdem stehen sie immer zueinander in Konkurrenz um Arbeitsplätze.

Marx erklärt, dass technischer Fortschritt dazu führt, dass Unternehmen mit gleichem Personal mehr produzieren können. Sie können deshalb sogar Arbeiter_innen entlassen, da diese im Zuge der Automatisierung zunehmend durch Maschinen ersetzbar werden. Das Kürzen von Arbeitsplätzen kann sich für Unternehmen lohnen, um weniger Lohn zu zahlen und damit mehr Gewinn machen zu können. Die Löhne der Arbeiter_innen müssen dabei nicht an den gewonnenen Mehrwert angepasst werden, womit potenziell höhere Gewinne für Unternehmen entstehen.

Das zeigt auf, dass für die Vermehrung des Kapitals zwangsläufig Löhne von Arbeiter_innen gedrückt und schlussendlich auch Menschen entlassen werden müssen. Werden Personen also entlassen oder finden keine Arbeit, so ist dies nicht ihre persönliche Schuld, sondern eine Bedingung und Folge unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Marx formulierte daher auch die These, dass „ein Kapitalismus mit Vollbeschäftigung […] immer eine Ausnahme [sei]: Vollbeschäftigung ermöglicht es den Arbeitern und Arbeiterinnen, höhere Löhne durchzusetzen, was dazu führt, dass sich der Akkumulationsprozess verlangsamt und/oder dass verstärkt arbeitssparende Maschinerie eingesetzt wird, sodass erneut eine industrielle Reservearmee entsteht“1. Die industrielle Reservearmee ist also ein Sammelbegriff für alle, die dazu in der Lage wären zu arbeiten, aber keinen Arbeitsplatz haben. Es sind die Massen an potenziellen Arbeiter_innen, die darauf warten, arbeiten zu können, um sich wieder durch Lohnarbeit zu finanzieren. Daher sind sie auch Konkurrenz für Arbeiter_innen mit Arbeitsplätzen. Unter die industrielle Reservearmee fallen heutzutage auch ALG-II-Bezieher_innen.

Wie sieht der Alltag von ALG-II-Beziehenden aus?

Vielleicht stellt sich einigen jetzt die Frage, wie sich so eine Analyse aus dem 19. Jahrhundert heutzutage noch anwenden lässt. Die Antwort darauf finden wir, wenn wir zunächst einmal einen Blick auf die deutsche Sozialpolitik und ihren Umgang mit Arbeitslosen werfen. In der BRD sind momentan rund 2,4 Millionen Personen arbeitslos2, 1.559.446 davon leben mit ALG II.3 Das ALG II, auch Hartz IV genannt, ist das „vierte […] Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“4 und wurde 2005 im Bundestag verabschiedet. ALG II soll hilfebedürftigen Erwerbslosen, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt und die ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenen Mitteln bestreiten können, helfen, ihre Lebenskosten zu decken.

Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet in Deutschland konkret, dass erwerbslose Personen mit einem Regelsatz von 449 Euro pro Monat ihren Alltag finanzieren müssen. Dieser Regelsatz ist, wie verschiedene Sozialverbände schon länger kritisieren, viel zu gering angesetzt und zudem mit Sanktionen und Maßnahmen verbunden. So kommentiert ein Mitglied der Gewerkschaft Freie Arbeiter_innen Union (FAU) aus der Hartz IV-AG Magdeburg die Situation wie folgt: „Wir müssen klar sagen, dass Hartz IV keine Hilfe ist, sondern Armut bedeutet. Die Regelleistung liegt unterhalb der Armutsgrenze und stellt deshalb kein Existenz-Minimum dar”.5 Der Paritätische Wohlfahrtsverband merkt an, dass bei sachgerechter Ermittlung eigentlich ein Regelsatz von 600 Euro an ALG-II- Beziehende ausgezahlt werden sollte.6

Um ihren Anspruch auf den Regelsatz von 449 Euro zu behalten, müssen ALG-II-Beziehende sich mit Maßnahmen herumschlagen, die ihnen vom Arbeitsamt aufgebrummt werden. Hier gibt es die unterschiedlichsten „Angebote” wie Bewerbungstrainings, Jobzuweisungen, Weiterbildungen sowie Arbeitsgelegenheiten. Zoras Vater erzählt ihr in einem Gespräch über seinen Lebensalltag als ALG-II-Beziehender: „Das Arbeitsamt versucht immer, die Menschen in irgendwelche Maßnahmen zu stecken. Es gibt Firmen, die dafür zuständig sind – und die vermitteln Leute an Vereine, für die man dann bis zu 6 Stunden für 1,50 Euro [Anm.: pro Stunde] arbeiten muss.” Wichtig ist, dass ALG-II-Beziehende eine ihnen vermittelte Arbeit nicht ablehnen dürfen, nur weil sie unter Tarif bezahlt wird oder unter dem ortsüblichen Entgelt liegt. Es gilt das Credo: Jede Arbeit ist zumutbar. Daher gibt es auch keinen Berufs- und Qualifikationsschutz. ALG-II-Bezieher_innen haben somit „[…] keinen Anspruch auf eine Arbeit, die Ihrem erlernten Beruf und Ihren Kenntnissen entspricht. Schlechtere Arbeitsbedingungen und verlängerte Fahrzeiten zur Arbeit müssen hingenommen werden, in manchen Fällen sogar ein Umzug”.7 Zudem müssen ALG-II-Bezieher_innen jeden Tag ihre Post durchsehen, um bloß keine „Vermittlungsbemühungen“ des Jobcenters zu verpassen und deswegen eventuell nicht zu Terminen zu erscheinen.

Die hier beschriebene Lebensrealität von ALG-II-Beziehenden verdeutlicht also: ALG II ist kein Sozialprojekt. Das durch Steuern finanzierte ALG II dient lediglich dazu, dass die ungenutzte Arbeitskraft – die industrielle Reservearmee – am Leben gehalten wird und einsatzbereit bleibt. Konkret äußert sich diese Praxis in den obligatorischen Maßnahmen und Fortbildungen, die das Jobcenter für ALG-II-Bezieher_innen bereithält. Die Beibehaltung des negativen Status des Arbeitslosengelds ist in gewisser Weise ein Kontrollmechanismus, um Arbeiter_innen davon abzuhalten, ihre Arbeit zu beenden und die Sozialhilfen in Anspruch zu nehmen. Man könnte also behaupten, dass sowohl die Stigmatisierung als auch das Beibehalten der erniedrigenden Bedingungen von ALG-II-Zahlungen notwendig für das Aufrechterhalten einer bestimmten Arbeitsmoral sind. Diese erzwungene Arbeitsmoral lebt von dem Druck, arbeiten zu müssen, da einem sonst die Willkür des Jobcenters und existentielle Armut drohen. ALG II, wie es gerade in der BRD existiert, ist daher Teil einer Praxis, die Arbeiter_innen in stetiger Konkurrenz um Arbeitsplätze hält und die Angst vor dem Verlust der Arbeit anfeuert. Zudem wird durch das ALG II das Aufruhrpotenzial der Massen extrem vermindert, da sie mit dem existenzsichernden Minimum ruhiggestellt werden.

Das Märchen vom Fördern und Fordern oder die Spaltung des Proletariats

In einer Debatte zur Reformierung des ALG II sagte der CDUler Kai Whittaker: „Wer die Hilfe der Gemeinschaft in Anspruch nimmt, hat auch die Verantwortung, schnell aus dieser Hilfe wieder herauszukommen; denn am Ende müssen diese Leistungen auch durch Steuern bezahlt werden, übrigens auch und gerade von Menschen, die wenig Geld verdienen. Sanktionen treffen die, die sich dieser Solidarität verweigern. […] Eine Politik, die nur noch fördert und nichts mehr fordert, war nie unsere Politik, ist es nicht und wird es nie werden”.8 Die Argumentation der CDU versucht hier eine Spaltung zwischen Arbeiter_innen und Arbeitslosen, die durch die Stigmatisierung von ALG-II-Bezieher_innen entsteht. Die Stilisierung von ALG-II-Bezieher_innen als Sozialschmarotzer_innen und Steuerverschwender_innen und somit als Belastung für die Gesellschaft führt zu einer Spaltung und der damit einhergehenden verminderten Solidarität zwischen Arbeiter_innen und Arbeitslosen. Damit wird von den wahren Problemen der Arbeiter_innen abgelenkt, und zwar, dass es immer unsichere und schlechtere Arbeitsbedingungen gibt, Minijobs und unsichere Arbeitsverhältnisse weiter ausgebaut werden, der Mindestlohn durch Outsourcing umgangen wird und noch vieles mehr. Arbeiter_innen wird lieber suggeriert, dass die Steuerabzüge von ihrem Lohn von ALG-II-Bezieher_innen verschwendet werden. Zoras Vater beschreibt es so: „Es ist kein entspanntes Leben, sondern ein Leben unter permanentem Druck. Dieser Druck wird auch durch das Umfeld permanent aufgebaut. Wenn man nicht im System ist, dann ist man ein Außenseiter.” Diesen Außenseiter_innen oder Randgestalten der Gesellschaft machte auch Marx den Vorwurf, dass sie aufgrund ihrer Entfremdung zur Lohnarbeit kein revolutionäres Potenzial aufweisen würden. Er bezeichnete sie als ‚Lumpenproletariat’. Wir wollen diesem Vorwurf widersprechen und anmerken, dass Arbeiter_innen und Arbeitslose nicht in einem Gegensatz verstanden werden sollten, sondern als Teil einer Gruppe, die davon abhängig ist, ihr Leben durch entfremdete Arbeit zu finanzieren. Es ist grade deshalb wichtig, Allianzen zu bilden, um als Arbeiter_innenklasse Schlagkraft und Durchsetzungsfähigkeit zu erlangen und nicht in ewig kleinere Splittergruppen zu zerfallen. In Berlin zeigt die Initiative BASTA!9 wie solch eine Allianz funktionieren kann. Sie hat sich auf die Beratung und Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit dem Jobcenter oder Sozialgericht spezialisiert und bietet eine Anlaufstelle für ALG-II-Empfänger_innen.

Und jetzt?

Wir wollen mit diesem Text verdeutlichen, dass ALG II perfekt in die Maschinerie des Kapitalismus passt, da es diesen durch verschiedene Funktionen am Leben erhält und Menschen damit einhergehend systematisch entmündigt. Uns ist es hierbei wichtig, eine fundamentale Kritik am bestehenden Diskurs und am System des Kapitalismus zu formulieren. Was wir nicht wollen, ist, das gute Arbeitslosengeld zu erfinden oder ihm einfach einen neuen Namen zu geben. Ob das neue Bürgergeld nun sanktionsfrei ist oder nicht – es bleibt eine Reform, die das Grundproblem nicht lösen wird. Arbeitslosigkeit und Armut werden immer zu einem System gehören, das auf Profitmaximierung und nicht auf das Wohlergehen der Menschen ausgelegt ist. Uns ist wichtig, dass Individuen sich nicht selbst für ihre miserable Situation verantwortlich machen, sondern das System hinter der Verarmung verstehen. Zora hat die Beschäftigung mit Theorien und Kritiken am Kapitalismus geholfen, sich selbst, ihr Aufwachsen und ihre Eltern besser zu verstehen. Denn manchmal hilft das Verständnis einer Ungerechtigkeitserfahrung dabei, mit dieser umzugehen und sich gegen falsche Anschuldigungen und Beleidigungen zu wehren. Die Auseinandersetzung mit und ein Bewusstsein für die eigene Position innerhalb der Gesellschaft helfen ebenso dabei, die Wut zu bündeln und die daraus resultierende Kraft in gemeinsame Organisierung und Aktion zu stecken. Damit wir gemeinsam für ein besseres und gerechteres Leben kämpfen können!

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1 Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung., 2018, S.126.

2 Bundesagentur für Arbeit: Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt im Januar 2022, online unter: www.arbeitsagentur.de

3 Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosenquoten im Januar 2022 – Länder und Kreise, online unter: www.arbeitsagentur.de

4 Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“), 24.12.2003, online unter: www.bmas.de

5 Redaktion der Direkten Aktion: Wenn alle das wüssten. Interview mit einem Mitglied der Hartz 4-AG der FAU Magdeburg, 24.12.2003, online unter: www.direkteaktion.org

6 Der Paritätische: Hartz IV: Paritätischer kritisiert geplante Anpassung der Regelsätze um drei Euro als „lächerlich gering” und warnt vor realen Kaufkraftverlusten, 26.08.2022, online unter: www.der-paritaetische.de

7 Der Paritätische: Arbeitslosengeld 2 für Geringverdiener und Erwerbslose – Hartz IV Grundsicherung, 2020, online unter: www.der-paritaetische.de

8 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll, 16.12.2021, 6. Sitzung, S.434.

9 Mehr zur Erwerbslosenintiative BASTA! online unter: www.basta.blogsport.eu