Auf fremdem Terrain – HUch#91

| Interview mit Wolf Dermann, geführt von Joshua Schultheis |

Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern sind an der Uni mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer von ArbeiterKind.de darüber, woran das liegt und wie dem abgeholfen werden kann.

Die Zahlen der letzten Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zeigen eine paradoxe Entwicklung: Während es im Jahr 2016 mit 48 Prozent anteilsmäßig noch nie so wenige Studierende ohne einen Elternteil mit Hochschulabschluss gab, sind sie in absoluten Zahlen (1,35 Millionen) heute so zahlreich wie nie zuvor. Was sagt das über die soziale Durchlässigkeit der Hochschulen aus?

Diese Zahlen können irreführend sein. Man muss immer die Vergleichsgröße haben, wie viel Prozent der Kinder eines Jahrgangs aus einem Elternhaus kommen, in dem mindestens ein Elternteil Akademiker_in ist. Und dieser Anteil ist natürlich auch kontinuierlich gestiegen. Wenn die Leute aber lesen, das ist fast 50-50, dann klingt das für viele so, als sei das sehr ausgeglichen und gerecht. Aber das ist es natürlich nicht. Knapp weniger als ein Viertel eines Jahrgangs hat ein Elternteil, das ein Studium abgeschlossen hat. Also wachsen über drei Viertel aller Kinder ohne ein akademisch gebildetes Elternteil auf. Wenn im Studium dann jeweils zur Hälfte Kinder aus akademischen und aus nicht-akademischen Elternhäusern landen, dann bedeutet das, dass Akademiker_innenkinder eine dreimal höhere Chance haben, zu studieren, als Arbeiter_innenkinder.

Es gibt diese Erzählung, die viele, gerade ältere Leute im Kopf haben, dass wir in den Siebziger Jahren eine Bildungsexpansion hatten, und dass es doch jetzt inzwischen so sein müsste, dass die Chancen für alle ungefähr gleich sind. Dabei werden aber bestimmte spätere Entwicklungen nicht berücksichtigt. Treibende Kraft der Bildungsexpansion war das BAföG, das am Anfang ein Vollzuschuss war, nach dem Antritt der Regierung Kohl aber zu einem Volldarlehen umgewandelt wurde. Dadurch bekam die Bildungsexpansion einen richtigen Knick nach unten. Im Kopf haben die Leute eine zunächst positive Entwicklung aber einfach weitergesponnen, obwohl es schon wieder bergab ging, was man auch an den Zahlen sehen kann.

Aber noch mal nachgehakt: Es gibt mehr Arbeiter_innenkinder an der Universität als je zuvor und die Chance jedes einzelnen von ihnen, zu studieren, ist heute auch höher als noch vor ein paar Jahrzehnten. In Relation zu den Kindern aus akademischen Familien haben sich ihre Chancen aber nicht verbessert. Zeigt sich das Problem nur in diesem Vergleich?

Wir haben natürlich eine veränderte Arbeitswelt, die viel mehr akademische Qualifikation braucht, und deshalb ist auch unter Kindern aus nicht-akademischen Familien die Studierendenrate gestiegen. Wir haben hier aber die Disparität, dass Arbeiter_innenkinder stärker an die Fachhochschulen gehen, die heute ein Drittel aller Studierenden umfassen. Diese Expansion ist an den Universitäten noch nicht ganz angekommen. Also gilt für viele Arbeiter_innenkinder zwar, dass ihnen ein Bildungsaufstieg gelungen ist, dass sie aber trotzdem nicht immer an die Orte gelangen, an denen sich traditionell die Akademiker_innenkinder tummeln.

Manche Abgeordnete des Bundestages – insbesondere bei CDU und AfD – und einige Intellektuelle, wie etwa der Philosoph Julian Nida-Rümelin, fordern eine geringere Abiturquote und damit weniger Studierende, da sie glauben, wir hätten es in unserer Gesellschaft mit einer »Überakademisierung« zu tun. Gleichzeitig sollen Ausbildungsberufe symbolisch aufgewertet werden. Was ist von dieser Vorstellung zu halten?

Da geht es um die Frage, was meint man mit Aufstieg und mit Gerechtigkeit. Aus unserer Sicht geht es dabei schon um den Aufstieg bis ganz nach oben und nicht nur um die Chance für alle, irgendeinen Arbeitsplatz zu bekommen. Auch wenn man mit einer dualen Ausbildung viele Möglichkeiten hat, ist es doch weiterhin so, dass ein Uniabschluss de facto obligatorisch ist, wenn man etwa in den Bundestag will. Da muss sich die Politik auch an die eigene Nase fassen, weil in allen Parteien die Selbstverständlichkeit herrscht, dass sich das politische Spitzenpersonal aus Akademiker_innen rekrutiert. Da ist es verlogen, wenn Bundestagsabgeordnete sagen, dass ein Studium nicht wichtig sei, um es weit zu bringen.

Es wird immer das Beispiel des Tischlermeisters herangezogen, der viel mehr verdiene als die Kunsthistorikerin. Aber auch das geben die Zahlen nicht her: Man verdient durchschnittlich deutlich mehr mit einem akademischen Grad als ohne einen.

Ja, genau. Das haben wir auch nachgeguckt, und der Stundenlohn einer Akademiker_in mit fünfjährigem Studium ist 78 Prozent höher als der einer Berufsgebildeten ohne Meister und immer noch 29 Prozent höher als ein Gehalt mit Meistergrad. Es ist absurd, sich einfach die am schlechtesten verdienenden Akademiker_innen rauszupicken und dann mit erfolgreichen Unternehmer_innen zu vergleichen. Man muss immer auf das Ganze gucken und es wäre gemein, wenn man Arbeiter_innenkindern vorenthielte, dass das Studium auch für sie der Bildungsweg ist, mit dem sie später einmal am meisten verdienen können.

Nun gab es ja nicht nur in den Siebzigern, sondern auch in den Zweitausender Jahren eine Bildungsexpansion. Auch das BAG wurde abermals umgestellt auf einen Halbzuschuss. Warum konnten auch dieses Mal die Arbeiter_innenkinder nicht mit den Kindern aus akademischen Haushalten gleichziehen?

Das BAföG ist zu Hälfte ein Kredit geblieben, und was gerade Menschen mit einem akademischen Hintergrund ganz schwer zu vermitteln ist, ist die Angst vor Verschuldung, die in sozial schwachen Familien extrem stark ausgeprägt ist. Dort wird den Kindern oft eingebläut, dass es sich nicht gehört, Schulden aufzunehmen. Im Deutschen spielt da auch die gleiche Wortherkunft von »Schuld« und »Schulden« mit hinein. Hinzu kommt, dass dieselbe Schuldenhöhe eben nicht für alle gleich ist, sondern gemessen am Vermögen der Herkunftsfamilie und am zu erwartenden Erbe ganz unterschiedliches Gewicht haben kann.

Aber man muss doch annehmen, dass nicht alle Gründe, die Arbeiter_innenkinder von der Universität fernhalten, ökonomischer Natur sind. Gibt es nicht auch subjektive Faktoren?

Immer, wenn man als erste Person in der Familie studieren geht, betritt man fremdes Terrain, man geht einen Weg, den die Eltern nicht gegangen sind. Diese können ihren Kindern dann oft im Studium nicht helfen oder sie raten ihnen sogar davon ab, weil sie ein negatives Bild von Studierten haben, die sich für etwas Besseres halten. In akademischen Haushalten dagegen erzählen die Eltern von ihrem Studium – dass die eigenen Kinder auch einmal zur Uni gehen, wird so zur Selbstverständlichkeit. In nicht-akademischen Familien gibt es solche Erzählungen nicht, stattdessen ist hier die unterschwellige Erwartung eher, dass die Kinder wie ihre Eltern auch eine Ausbildung machen. Da braucht es Figuren, die einem anderen Perspektiven aufzeigen können. Das können Lehrer_innen sein oder auch mal Nachbar_innen. Da das aber eine Sache des Zufalls ist, gehen wir von ArbeiterKind.de in die Schulen und machen Infoveranstaltungen darüber, warum es sich lohnt zu studieren und wie man das finanzieren kann.

Gibt es neben den berechtigen Anliegen von Arbeiter_innenkindern noch andere Gründe, aus denen man dafür eintreten sollte, dass es mehr Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern gibt?

Neben einem Gerechtigkeitsdefizit haben wir es auch mit verschenktem Potential zu tun, weil hier Menschen auf ein Studium verzichten, obwohl sie es draufhätten und begabte Wissenschaftler_innen, Ingenieur_innen oder Philosoph_innen wären. Diesen Verlust kann man wirtschaftlich sehen, aber auch kulturell.

Betrachten wir einmal die ökonomische Lage von Studierenden aus Arbeiter_innenfamilien. Der Einkommensunterschied zwischen Studierenden mit der höchsten Bildungsherkunft und solchen mit der niedrigsten beziffert sich auf knapp 50 Euro. Das klingt erst einmal nicht viel. Haben Arbeiter_innenkinder denn ein besonderes Problem, ihr Studium zu finanzieren?

Schaut man sich bloß die absoluten Zahlen an, dann fällt eine Form der Ungerechtigkeit gar nicht ins Auge. Arbeiter_innenkinder aus einem auch finanziell schwachen Elternhaus, gehen auch mehr jobben. Diese Studierenden haben dann weniger Zeit, sich auf ihr Studium zu konzentrieren und arbeiten häufig auch in fachfremden Jobs, weil sie nicht warten können, bis sich eine passende Stelle ergibt. Ihr finanzielles Niveau mag dann im Endeffekt dem Durchschnitt entsprechen, gerecht ist das dennoch nicht.

Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern erhalten überdurchschnittlich oft BAG, auch wenn die Förderrate auch hier rückläufig ist. Wie gut ist die staatliche Unterstützung für studierende Arbeiter_innenkinder?

Beim BAföG ist eines der größten Probleme das Informationsdefizit sowie die Angst vor Bürokratie und Verschuldung. Das verhindert, dass viele Anspruchsberechtigte BAföG überhaupt beantragen. Wir setzen uns dafür ein, dass das US-amerikanische System übernommen wird, wo den Studierenden mit der Studienplatzzusage eine Mappe mit allen Unterlagen zur Studienfinanzierung zugesandt wird. Darüber hinaus ist der BAföG-Satz trotz der letzten Erhöhung längst nicht ausreichend. Insbesondere die Wohnpauschale ist mit Blick auf die Mietpreise in den großen Städten viel zu gering.

Während die Bedeutung von BAG abnimmt, nimmt die der Stipendien zu.

Stipendien gehen auch überproportional an Kinder aus akademischen Elternhäusern, selbst wenn es unter den Begabtenwerken auch Ausnahmen gibt. Auch hier gibt es das Problem, dass Arbeiter_innenkinder von Stipendien meist nichts wissen, während Akademiker_innenkinder häufig schon durch ihre Eltern von dieser Möglichkeit erfahren. Da ist die soziale Schieflage natürlich vorprogrammiert. Das Wissen darum, dass man gar nicht unbedingt ein Einser-Abi braucht, um ein Stipendium zu erhalten, ist leider nicht gleichmäßig verteilt. Die meisten Abiturient_innen aus nicht-akademischen Familien schließen für sich von Vorhinein aus, dass sie gut genug dafür sind.

Welche Hilfs- und Beratungsangebote gibt es für Studierende aus Arbeiter_innenfamilien?

Der Großteil der Angebote sind solche, die eigentlich allen Studierenden offenstehen und auf die wir auch permanent weiterverweisen. Das sind die allgemeinen Studierendenberatungen, die Beratungen der Studierendenwerke oder besonders auch die Sozialberatungen der ASten, weil die besonders gute Insidertipps haben. Arbeiter_innenkinder sind in besonderem Maße auf solche unterstützende Beratung angewiesen, müssen aber häufig motiviert und angeregt werden, diese tatsächlich wahrzunehmen, weil es auch hier bestimmte Ängste gibt. Wir von ArbeiterKind.de gehen teilweise auch mit Studierenden zusammen zum BAföG-Amt. Auch ich habe das schon gemacht und ich erinnere mich an einen Fall, in dem nach einem Gespräch im BAföG-Amt die Studentin tatsächlich glaubte, ihre finanzielle Unterstützung sei ihr gerade entzogen worden – dabei fehlte lediglich noch ein Dokument. Zum Glück konnte ich das Missverständnis aufklären. Das hat mir sehr eindrücklich gezeigt, wie groß einerseits die Verunsicherung bei vielen Studierenden aus Arbeiter_innenfamilien ist und andererseits, wie wenig manchmal getan werden muss, um einen echten Unterschied zu machen.

Was macht ArbeiterKind.de noch, um Studierende aus Arbeiterfamilien zu unterstützen?

An erster Stelle steht bei uns das Motivieren zum Studium. Der Kern unserer Arbeit ist es, in Schulen zu gehen und dort über die eigenen Erfahrungen als Erstakademiker_in zu erzählen sowie über die Möglichkeiten der Studienfinanzierung zu informieren. Zusätzlich bieten unsere Ehrenamtlichen individuelle Unterstützung an für Jugendliche, die bei einer unserer Veranstaltungen waren oder unser Infotelefon anrufen. Die kriegen dann vor und während des Studiums eine Person vermittelt, mit der sie sich treffen können und die bei Problemen ansprechbar ist. Für die Zeit nach dem Studium haben wir schließlich ein Berufseinstiegsprogramm. Vom Übergang ins Studium bis in den ersten Job können wir also Arbeiter_innenkinder die ganze Zeit über unterstützen. Darüber hinaus sind wir auch eine Community. Das heißt, diejenigen, die sich bei uns engagieren, sind teilweise selbst noch im Studium und unterstützen sich gegenseitig. Wir haben 80 lokale Gruppen in Deutschland, deren jeweilige Mitglieder sich mindestens einmal im Monat treffen, um sich auszutauschen und zu bestärken.