Schlussstrich unter’m Schlussstrich – HUch#90

| von Friedemann Melcher |

Felix Bohrs Studie über die Unterstützung im Ausland inhaftierter NS-Täter durch die BRD wirft Fragen über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf, die auch die Gegenwart betreffen.

Illustration: elio/nora amrel

Zum siebzigsten Jahrestag der Gründung der Bonner Republik beschwor der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet gegenüber der dpa die Bonner Tugenden von »Maß und Mitte«. Anlässlich dieses Jubiläums lohnt es sich in der 2018 bei Suhrkamp erschienenen Studie Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter von Felix Bohr nachzulesen, was es mit jener »Mitte« und jenem »Maß« der Bonner Republik auf sich hatte. Die »Tugendhaftigkeit« der wechselnden westdeutschen Regierungen der Jahre 1949-1990 erscheint nach der Lektüre in einem anderen Licht.

Wie der Untertitel bereits ankündigt, berichtet das Buch von der bundesdeutschen Unterstützung für verurteilte NS-Verbrecher, in diesem Fall von den letzten in Haft Verbliebenen im westeuropäischen Ausland, die sogenannten »Vier von Breda« in den Niederlanden und Herbert Kappler in Italien. Kappler, Leiter des SD in Rom während der deutschen Besatzungszeit, sorgte nicht nur durch Razzien für die Deportation von über tausend Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Roms, sondern organisierte 1944 auch das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem er und andere SS-Männer 335 Menschen ermordeten. Nach seiner Festnahme 1945 und der Verurteilung zu lebenslanger Haft war er der »prominenteste deutsche Kriegsverbrecher in italienischem Gewahrsam« und ab 1951 auch der einzige. Bei den »Vier von Breda« handelt es sich um drei Geheimdienstler und Organisatoren von Massendeportationen und Razzien, sowie den stellvertretenden Kommandanten eines Konzentrationslagers, die maßgeblich an den Schrecken der Schoah in den Niederlanden beteiligt waren. Alle Vier – Franz Fischer, Ferdinand aus der Fünten, Willy Lages und Joseph Kotalla – wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die sie im Gefängnis von Breda absitzen sollten.

Anhand der Geschichten dieser Täter nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht Felix Bohr das Verhältnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu den Verbrechen der NS-Zeit. Minutiös und mit einer Vielzahl von Quellen zeichnet Bohr die Bemühungen der Kirchen, der Unterstützungsnetzwerke und des Staates nach, auf eine Haftentlassung und Rehabilitierung von NS-Verbrechern hinzuwirken, was, bis auf die fünf Genannten, ausgesprochen erfolgreich war. In Anlehnung an die Studien des Jenaer Historikers Norbert Frei, der als Teil der Unabhängigen Historikerkommission die Vergangenheit des Auswärtigen Amts im NS und in der jungen Bundesrepublik untersuchte, kann Bohr zeigen, warum sich die Bonner Regierungen, trotz einer sich wandelnden Erinnerungskultur konstant für die Freilassung der NS-Täter einsetzten. Das Bestreben der Adenauer-Regierung, im Spannungsfeld zwischen den westeuropäischen Bündnispartnern und der titelgebenden »Lobby«, die ehemaligen Anhänger_innen des Nationalsozialismus zügig zu integrieren, verhinderte die juristische und historische Aufarbeitung ihrer Verbrechen.

Die Lobby, hauptsächlich bestehend aus dem SS-Veteranenverband »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« (Hiag), dem »Verband der Heimkehrer« (VdH) und der »Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V.« schürte im Nachkriegsjahrzent den deutschen Opfermythos und agitierte dementsprechend gegen eine vermeintliche »Siegerjustiz« des Westens. Gleichzeitig wurde die in der Bevölkerung vorherrschende »Schlussstrichmentalität« auch von den Kirchen getragen, die durch den Einsatz für Kriegsgefangene und -verbrecher ihre gesellschaftliche Relevanz festigen wollten. Um die deutsche Wiederbewaffnung angesichts des aufziehenden Kalten Krieges zu beschleunigen, kamen die Westalliierten den Forderungen der ersten Bundesregierung nach umfassenden Amnestierungen nach, sodass bereits 1958 beinahe alle NS-Täter im In- und Ausland aus den Gefängnissen entlassen worden waren. In diesem politischen Klima wurden aus den letzten Kriegsverbrechern im Beamtendeutsch der 50er Jahre schnell »Kriegsverurteilte«, ein Begriff, der sich bis 1989 halten sollte.

Wirklich erschreckend ist die Art und Weise in der sich auch Gegner_innen und Verfolgte des NS-Regimes dem geschichtsrevisionistischen Zeitgeist anbiederten. Der ehemalige Widerstandskämpfer Willy Brandt setzte sich ab 1966 als Außenminister und ab 1969 als Kanzler intensiv für Kappler und die »Vier von Breda« ein, wobei dieses Engagement beispielsweise bei der PSI in Italien Irritationen auslöste. Trotzdem äußerte der damalige außenpolitische Berater des SPD-Parteivorstands, Alexander Kohn-Brandenburg, in einem Brief mit Bezug auf den Resistenza-Veteran Sandro Pertini seine Hoffnung, dass einmal »auch die gehässigsten Widerstandsleute« nachgeben müssten. Diese beinahe absurd anmutende Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Haltungen zum Widerstand gegen den Faschismus ist aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen. Entscheidend ist dabei laut Bohr der Wunsch der SPD, als »Volkspartei« auch ehemalige NSDAP-Mitglieder anzusprechen – aus einer Hoffnung auf gesellschaftliche »Versöhnung« und aus machtpolitischem Opportunismus heraus.

Während der Einsatz der Bundesregierung für die Freilassung der letzten Gefangenen Früchte zu tragen drohte, erledigten sich die Fälle teilweise von selbst. Lages wurde 1966 aus Gesundheitsgründen entlassen und starb 1971 in Braunlage, Kotalla starb 1979 im Bredaer Gefängnis. Herbert Kappler hingegen gelang 1977 mit Hilfe seiner Frau, der Soltauer Heilpraktikerin Anneliese-Kappler Wenger, und finanzieller Unterstützung der »alten Kameraden« die spektakuläre Flucht aus einem römischen Militärkrankenhaus. Erst Anfang der 80er Jahre wurde die Gemeinnützigkeit der Hiag erstmals in Frage gestellt. Nach der Auflösung des Bundesverbands 1992 existieren einzelne regionale Gruppen der SS-Veteranen weiter, deren Hamburger Ableger bis 2005 weiterhin als gemeinnützig anerkannt war. In Anbetracht des staatlich geförderten Überlebens solcher Vereine muss die aktuelle Entscheidung des Berliner Finanzamts, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit zu entziehen, wie ein grausamer Scherz klingen.

Die unter Kohl wie selbstverständlich fortgesetzten Bemühungen um eine Entlassung der beiden letzten Gefangenen in Breda zeigen, dass die Kriegsverbrecherhilfe in den 80er Jahren längst zur Staatsräson geworden war. Fischer und aus der Fünten kamen 1989 frei, wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer. Die Studie zeigt dabei eindrücklich auf, dass die Freilassung der beiden Täter und die unerträgliche Straffreiheit tausender Anderer nur die Symptome einer Gesellschaft waren, die sich in großen Teilen nie zu ihrer Schuld bekennen wollte. Die Forderung nach einem  »Schlussstrich« unter den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus, die von der AfD und anderen Akteuren der politischen Rechten wieder öffentlichkeitswirksam propagiert wird, war seit ihrer Gründung elementarer Bestandteil der BRD.

Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter.  Suhrkamp. 558 Seiten, 28 Euro.