Das Märchen von der »universitas« – HUch#86

Von Apollonia zu Hohensteinach

Die Universität ist ein Traum. Ein Traum von einem Ort, dem man sich unwissend anvertraut, um ihn wissend wieder zu verlassen. Welche Art von Wissen worüber dort vermittelt wird, wofür und warum, hat sich mit der Zeit ebenso verändert wie mit ihrer Klientel; jene selbst hat sich am allermeisten verändert. Die Universität als höchste Bildungsinstitution unserer Gesellschaften war traditionell ein Ort der Restriktion und ist es heute, da fallen Illusionen schwer. Aber man munkelt, es habe irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts merkwürdige Leute gegeben, die die ganze Zeit an nichts anderes dachten als an die Möglichkeit einer freien, emanzipierten Gesellschaft. Diese Leute hatten angeblich ein Faible für Illusionen, und irgendwie stellten sie sich die Universität als das Gewächshaus einer besseren Welt vor. Die Gesellschaft dieser Zeit war durchaus restriktiv; die Universität allerdings hatte darin eine besondere Position: In einem wirtschaftlich aufstrebenden Staat sollte sie die Verwaltungs- und Bildungselite produzieren, also wurde sie reichlich finanziert, und der Zugang zu ihren heiligen Hallen wurde erleichtert. Plötzlich war sie ein Ort, an dem Menschen aus allen möglichen sozialen Lagen zusammenfanden. Einige von ihnen sahen die Möglichkeit, die in ihren Strukturen und Lehrinhalten nach wie vor reaktionäre Institution zu einem Ort der sozialen Assoziation, der Reflexion, des Diskurses, der Kritik zu machen. Von diesem Ort sollte gesellschaftliche Bildung ausgehen. Also protestierten und demonstrierten sie, belagerten sie die Hörsäle und Straßen und veränderten: Universität und Gesellschaft.

Viele dieser Leute mit den Illusionen sind heute die Eltern oder Großeltern von Menschen, die die Universität besuchen, und diese Kinder und Enkel hören wundersame Geschichten von Zeiten, in denen es nicht so wichtig war, wie viel Zeit man für ein Studium brauchte, sondern was man mit dieser Zeit anfing; in denen man von BAföG oder einer Hilfskraftstelle an der Uni problemlos seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte; in denen es Seminare bei Professoren gab, die eine bestimmte Forschungsrichtung vertraten und darüber sogar Bücher veröffentlichten; in denen man in den meisten Fächern nach einem obligatorischen Propädeutikum frei wählen konnte, welche Lehrveranstaltungen man belegte, statt sein ganzes Studium mit obligatorischen Modulen zu bestreiten.

Den jungen Studierenden sind diese Erzählungen unverständlich. Lektüreseminar? Was bedeutet das? Keine Modulabschlussprüfungen? Aber woher wusste man dann, ob ihr gelernt hattet, was ihr solltet? Dozentinnen mussten nicht nach Modulplan lehren? Die Armen, wie orientierungslos müssen sie gewesen sein! Und Seminare ohne Vorgabe wählen? Ihr Armen, wie orientierungslos müsst ihr erst gewesen sein! Den ganzen Lebensunterhalt bestreiten von einer Stelle als studentische Hilfskraft? Das habt ihr wohl geträumt. Das haben sie. Dann haben sie Realität daraus gemacht. Und irgendwann haben sie die Universität ver- und ihren Nachfolgern überlassen, die sich über das anregende akademische Umfeld so freuten, dass sie auch gerne mal ein paar Jahre zum Studieren brauchten. Nur irgendwann wurde es dem Staat und der Wirtschaft zu blöd, auf einen Großteil ihrer prospektiven Fach- und Führungskräfte immer so lange warten zu müssen. Eine Reform tat Not, wurde gezeugt und geboren, und man nannte sie, nach der schönen Stadt der ersten europäischen Universität, Bologna.

Über die unerfreulichen Eigenschaften dieses Natterngezüchts brauchen wir hier keine Worte zu verlieren, sie sind zur Genüge bekannt – und der Grund für die Ungläubigkeit der heutigen Studierenden angesichts der Schilderung der Zustände davor. Die Folgen sind aber einen Blick wert:

Das, was eigentlich allen möglich gemacht werden sollte, nämlich Reflexion, Bildung im umfassenden Sinn, ist plötzlich wieder nur denen vorbehalten, die es sich leisten können. Wer den Bachelor in Regelstudienzeit nicht schafft, verliert den BAföG-Anspruch, außer, er kann sich mit Tricks wie Gremienarbeit zusätzliche Semester erkaufen. Ihn aber in Regelstudienzeit zu schaffen, bedeutet, gerade in arbeitsreichen Fächern wie Psychologie, dass für Horizonterweiterndes wie den Besuch anderer Fächer, Lesekreise etc. kaum Zeit bleibt. Gar keine, wenn man, was in den meisten Städten der Fall sein dürfte, mit dem BAföG-Höchstsatz nicht auskommt und zusätzlich arbeiten muss. Dann lernt und liest man halt drei Jahre lang nur das, was im Modulplan steht, und ist hinterher ein sogenannter »Fachidiot«. Oft aber noch nicht mal das, weil, das im Bachelor vermittelte Fachwissen oft eben nicht gerade profund ist (gerne wird ja schon in der Einführung zum Studium gesagt, es solle hier nur »ein Überblick vermittelt werden«) und die vielgepriesenen Kompetenzen eben nicht so hilfreich, außer vielleicht für die Behörde, die sich über alles Quantifizierbare freut.

Nun sagt man sich, es gebe hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen ein wunderbares Land, in dem all diese hässlichen Bedingungen nicht dräuen. Wo Professoren sich neben der Lehre noch mit Forschung beschäftigen können statt mit Drittmittelanträgen und auch noch halbwegs anständig dafür bezahlt werden. Wo die Dozenten deshalb auch noch mit Vergnügen ihr Wissen an die Studierenden vermitteln. Wo man seine Seminararbeit abgibt, wenn man Zeit hat, und nicht, wenn das Semester zu Ende geht, und dergleichen mehr. Dieses zauberhafte Land, oder besser diese Länder, denn es gibt ihrer viele, heißen Privatuniversitäten; das Fiese ist nur, dass die sieben Berge alle Tausender sind. Mindestens.

Plötzlich herrscht also eine Situation wie vor den 1960er Jahren, dass nämlich die mit wohlhabenden Eltern Gesegneten sich den Luxus der umfassenden Bildung erlauben können; sei es nun, indem sie eine Privatuniversität besuchen, an der sie Qualität und Freiheit der Lehre und minimale Betreuungsschlüssel erwarten, oder an der staatlichen Uni sich mit dem qualitativ schlechteren Studium wenigstens Zeit lassen, verschiedene Fächer ausprobieren und eventuell gleich mehrere Abschlüsse bekommen können. Die vom Zufall weniger Bedachten machen eben nach wie vor eine drei- oder fünfjährige Ausbildung. Die sieht heute nur besser aus als früher, weil das Siegel der Universität draufklebt.

Wenn also die Bedeutung von Universität im Moment so umfassend unerfreulich ist, was sollen wir dann noch mit ihr anfangen?

So wie das Land hinter den Bergen kein eigentliches Land ist, ist auch die Privatuniversität im Vergleich zu einer staatlichen keine eigentliche Universität. Während eine staatliche Universität ausmacht, dass hier jeder mit einem Abschluss hingehen kann, dafür aber keine Freiheit der Lehre besteht, keine Zeit zum Lernen im emphatischen Sinn, keine Möglichkeit zum Austausch mit Lehrenden und anderen Studierenden, so zeichnet sich die Privatuniversität dadurch aus, dass Freiheit der Lehre, Zeit zum Lernen, Möglichkeit zum Austausch da sind, dass aber nur hingehen kann, wer das nötige Geld auftreibt. Freiheit des Denkens ist also inzwischen nicht nur käuflich; es scheint, sie muss erkauft werden. Das ist den kapitalistischen Verhältnissen in seiner ganzen Schändlichkeit zwar angemessen, aber noch lange nicht hinnehmbar.

Der Begriff »universitas« für eine Bildungsinstitution bezeichnete zunächst nicht nur die Gesamtheit der Wissenschaften, sondern die Gemeinschaft der Lehrenden und Studierenden. Die »universitas« und die falsche Realität gleichermaßen beim Wort nehmend, haben die Träumer vor einigen Jahrzehnten mit ihren Forderungen nach freier Lehre und Forschung, freiem Zugang, freier Assoziation, Zeit, Austausch eine Nicht-Universität entworfen. Wir sollten ihnen folgen. Wir sollten die Nicht-Universität abtragen und mit den Trümmern unsere hohlen Lehrgebäude füllen, bis sie den Namen »universitas« wieder verdienen.